Studie

Jedes vierte Kind erleidet zu Hause noch immer psychische Gewalt

· Online seit 30.10.2020, 13:16 Uhr
Langsam aber doch konstant hat die Anzahl gewalttätiger Eltern in den vergangenen Jahren abgenommen. Die Coronakrise könnte diesen Effekt allerdings wieder aufheben.
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Migros, an der Kasse. «Ich will jetzt aber einen Schokoriegel», quengelt das Kind und stampft mit dem Fuss wiederholt auf den Boden. «Wenn du noch einmal quengelst, dann lassen wir dich hier stehen. Schau selber, wie du nach Hause kommst!», drohen die Eltern.

Es ist eine Szene, die sich so oder ähnlich sehr gut im echten Leben abspielen könnte, auch wenn dieses Beispiel ausgedacht ist. Was viele nicht wissen: Diese Drohung fällt unter psychische Gewalt.

Doch was gilt als psychische Gewalt? Fällt bereits die Bestrafung von Kindern darunter? Regula Bernhard Hug klärt auf: «Die Uno kennt eine genaue Definition: Die psychische Gewalt beginnt dort, wo man dem Kind psychisch extra wehtut.» Das reiche von herabsetzen und demütigen, lächerlich machen bis hin zu Angst einflössen. «Eigentlich ist es recht einfach: Es sind die Sachen, die man als Elternteil sagt und nachher bereut.» Dabei gehe es nicht darum, das Kind überhaupt nicht zu bestrafen, wenn es sich nicht an die Regeln halte. Aber: «Bestrafung muss nicht mit Gewalt zusammenhängen. Regeln sind gut und die Konsequenzen beim Regelbruch müssen klar sein», so Bernhard Hug. Es mache auch Sinn, die Konsequenzen gemeinsam mit den Kindern zu definieren, sobald diese etwas älter sind.

Rund jedes vierte Kind in der Schweiz leidet unter psychischer Gewalt. Das zeigen neueste Zahlen einer Studie von Kinderschutz Schweiz, durchgeführt von der Universität Freiburg. Geschäftsleiterin von Kinderschutz Schweiz, Regula Bernhard Hug, erklärt, warum obiges Beispiel problematisch ist: «Grundsätzlich sollte man einem Kind nichts androhen, was man schlussendlich nicht durchzieht. Schlimmer ist es allerdings, wenn das Kleinkind erwartet, dass man es tatsächlich durchzieht. Das hinterlässt beim Kind eine unglaubliche Angst und sehr viel Stress.»

Corona könnte Verbesserung wieder aufheben

Immerhin: Laut der Studie hat sich die Situation für die Kinder in den letzten Jahren verbessert. Die Zahl der gewalttätigen Eltern nimmt ab. Das zeigt sich in vergleichbaren Studien aus früheren Jahren. «Damit sind wir sehr zufrieden. Auch, dass rund zwei Drittel der Eltern angeben, gewaltfrei zu erziehen, erfreut uns. Unsere Kampagne ‹starke Ideen – es gibt immer eine Alternative zu Gewalt› konnte die Situation ausserdem auch ein wenig verbessern.»

Bernhard Hug gibt sich jedoch verhalten optimistisch, was die Nachhaltigkeit dieses Resultats anbelangt. «Leider wurde die Elternbefragung 2019 durchgeführt, also vor der Coronakrise. Ich kann mir vorstellen, dass der Stress durch die Pandemie die Situation in den Familien wieder verschärft hat», sagt sie. So hätten sich etwa wieder vermehrt Eltern beim Kinderschutz Schweiz gemeldet.

Nun will der Kinderschutz Schweiz die gewaltfreie Erziehung auch im Zivilgesetzbuch verankern. Die Stiftung unterstützt daher das Postulat von CVP-Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach, das in der Wintersession des Nationalrats behandelt wird. Dieses verlangt, vom Bundesrat zu prüfen, wie der «Grundsatz der gewaltfreien Erziehung» im Zivilgesetzbuch verankert werden könnte. «Alle unsere Nachbarländer kennen diesen Grundsatz im Gesetz. Es ist Zeit, dass die gewaltfreie Erziehung auch in der Schweiz zur Norm wird», sagt Bernhard Hug dazu.

Die Erfahrung der Nachbarländer zeige, dass Gewalt in der Familie, seit Einführung des Gesetzes zurückgegangen sei. Die Studie von Kinderschutz Schweiz unterscheidet zwei Erziehungstypen.

- Eltern, die möchten, dass ihre Kinder den gesellschaftlichen Normen entsprechen und pünktlich und fleissig sind und und und.

- Eltern, die möchten, dass ihre Kinder sich entfalten können und selbstsicher und selbstbestimmt leben.

Die erste Gruppe neigt dabei eher zu Gewalt. Gerade bei diesen Eltern funktioniere der Ansatz über den Gesetzeseintrag, damit sie weniger zu Gewalt neigen, so Bernhard Gut.

Bundesrat befürwortet die Annahme

Bereits im Februar hat sich der Bundesrat zum Thema geäussert: «Wie sich Eltern dabei zu verhalten haben, lässt sich in einer gesetzlichen Regel kaum befriedigend umschreiben», schreibt er als Antwort auf eine Motion, die ebenfalls Bulliard-Marbach eingereicht hatte. Der Bundesrat befürwortet dieses Mal jedoch die Annahme des Postulats.

veröffentlicht: 30. Oktober 2020 13:16
aktualisiert: 30. Oktober 2020 13:16
Quelle: PilatusToday

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