Leiter Long-Covid-Sprechstunde

«Long Covid kann die Menschen existenziell bedrohen»

09.11.2021, 10:47 Uhr
· Online seit 09.11.2021, 05:42 Uhr
Erschöpfungserscheinungen, Atembeschwerden, Muskelschmerzen: Die Long-Covid-Symptome sind vielfältig und weit verbreitet. Wie betroffene Patientinnen und Patienten damit umgehen und was man dagegen unternehmen kann, erklärt Georg Hafer, Leiter der Long-Covid-Sprechstunde am Kantonsspital St.Gallen.
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Wie erkenne ich, ob ich an Long-Covid-Symptomen leide?
Georg Hafer: Long Covid, was vier bis zwölf Wochen nach einer Covid-19-Erkrankung auftritt und Post Covid, was nach mehr als zwölf Wochen auftritt, sind klinische Diagnosen ohne spezifische, beziehungsweise beweisende Marker. Es sind daher Beschreibungen von Symptomen, die angewandt werden, wenn Menschen nach einer Covid-Erkrankung anhaltende oder neue Symptome entwickeln. Das können körperliche oder psychische Symptome sein. Bei allen kann das anders ausgeprägt sein. 

Wie sehen diese Symptome aus?
Man kann zwei Patientengruppen unterscheiden. Die einen sind in der Akutphase schwer an Covid erkrankt und haben beispielsweise einen Aufenthalt auf der Intensivstation hinter sich. Diese Personen haben meist organspezifische Beschwerden. Die anderen entwickeln nach einem eher milden Verlauf Symptome. Dazu gehört vor allem die sogenannte Fatigue mit körperlicher oder geistiger Belastungsintoleranz. Fatigue kennen wir aber auch im Zusammenhang mit anderen Krankheiten wie anderen Virusinfektionen, rheumatologischen Erkrankungen oder Krebsleiden. Es gibt auch unspezifische körperliche Symptome wie Atemnot, Muskel- und Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen und viele andere.

Wie genau zeigt sich die Fatigue?
Jeder Mensch hat eine persönliche Leistungsgrenze. Diese wird im Rahmen der Bemühungen, wieder auf die Beine zu kommen, oft überschritten. In unserer Vorstellung müssen wir uns nach einer Erkrankung anstrengen, um wieder fit zu werden. Bei diesen Erschöpfungssymptomen ist es aber anders. Wenn die individuelle Leistungsgrenze überschritten wird, kommt es zu einem Crash, also einem Rückschlag.

Ist Long Covid gefährlich?

Gefährlich ist relativ. Es kann milde Auswirkungen haben, aber auch dazu führen, dass ein Mensch aus seinem Alltag herausgerissen wird und beispielsweise arbeitsunfähig wird. Long Covid ist ein sehr unangenehmer Zustand, der die Menschen zum Teil existenziell bedroht.

Gibt es Personen, die auf Long Covid anfälliger sind?
Untersuchungen zeigen, dass mehrheitlich Frauen im mittleren Lebensalter betroffen sind. Das spiegelt sich in unserer Klientel wider. Zu uns kommen zwei Drittel Frauen und ein Drittel Männer. Einen wissenschaftlich belegbaren Grund gibt es dafür nicht.

Ausserdem zeigen Beobachtungen, dass Menschen, die während der akuten Covid-19-Erkrankung mehrere Einzelsymptome aufgewiesen haben, gefährdeter sind. Wenn wir davon ausgehen, dass die Impfung dazu führt, dass die Verläufe weniger schwer ausfallen, ist damit die Hoffnung verbunden, dass auch ein Long-Covid-Syndrom sich weniger stark ausbilden wird.

Gibt es vollständig geimpfte Personen, die mit Long-Covid-Symptomen kämpfen?
Wir haben im Schnitt eine Latenz von sechs Monaten zwischen der Covid-19-Erstdiagnose und Beratung bei uns. Aktuell kommen viele Personen aus der zweiten Welle vorbei. Damals war die Impfung noch kein Thema. Es kommen jetzt erst langsam Menschen zu uns, die an Covid erkrankt sind, nachdem die Impfung zum Einsatz kam. Das sind die sogenannten Impfdurchbrüche. Es sind aber noch sehr, sehr wenige. Es ist in unserer Sprechstunde eine absolute Rarität, dass Menschen trotz Impfung Covid bekommen haben und danach zu uns in die Sprechstunde kommen müssen.

Mit welchen Ängsten kommen die Patientinnen und Patienten zu Ihnen?
Wenn man schon sechs Monate mit den Symptomen leben muss, macht das etwas mit einem. Die Menschen, die zu uns kommen, sind ziemlich am Anschlag und verzweifelt. Häufig sind sie auch frustriert, weil das Verständnis für die Symptomatik im Umfeld nicht gegeben ist. Vor allem bei den Erschöpfungssymptomen würde der gesunde Menschenverstand eigentlich sagen, jetzt streng dich einfach mal an. Es gibt auch Arbeitgeber, die nach ein paar Monaten nur noch wenig Verständnis haben, wenn die Symptome einfach nicht besser werden. Es ist eine frustrierte Grundstimmung, wenn man nicht weiss, wie es weitergeht.

Wie geht man eine Behandlung an?
Long Covid und Post Covid sind interdisziplinäre Probleme. Wir arbeiten eng mit verschiedenen Fachbereichen zusammen. Bei der Fatigue haben wir eine Therapieform zur Hand, die eine Verbesserung bringen kann. Wir schicken die Menschen in eine kombinierte Ergo-Physio-Therapie. Dort wird ein sogenanntes Pacing-Programm absolviert, wo Energie- und Pausenmanagement gelernt wird. In der Physiotherapie wird geschaut, wie der Patient seine Grenzen erkennt.

Wird man wieder komplett gesund?
Wir sehen, dass über die Zeit von Wochen und Monaten fast immer eine Verbesserung eintritt. Ob das immer der Therapie zu verdanken oder eine Spontanheilung ist, ist schwer zu sagen. Nach fünf, sechs Wochen sieht man oft einen Therapieerfolg. Wie sich die Erkrankung ohne Therapie entwickelt, ist vom Individuum abhängig.

Wie lange wird es Ihre Sprechstunde noch brauchen?
Das hängt davon ab, wie lange es dauern wird, bis die Bevölkerung geimpft oder durchseucht ist. Das Thema wird uns aber noch die nächsten Jahre beschäftigen. Wir haben viele Patientinnen und Patienten, die nun schon ein Jahr mit dem Syndrom kämpfen.

Welchen Rat geben Sie Personen, die mit Long Covid kämpfen?
Man soll immer versuchen, positiv zu denken. Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels. Man kann versuchen, schnell darauf zuzurennen, desto schneller wird es sich aber entfernen. Man muss auf sich hören und seine Grenzen einhalten. Es gibt bei uns viele positive Beispiele, die zeigen, dass es ein gutes Leben nach Long Covid gibt.

veröffentlicht: 9. November 2021 05:42
aktualisiert: 9. November 2021 10:47
Quelle: FM1Today

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