Berufliche Vorsorge

Politiker sorgen sich um die Rente der Migros-Verkäuferin – doch jagen sie ein Phantom

· Online seit 01.07.2022, 07:54 Uhr
Der Streit um die Ausgestaltung der Pensionskassenreform geht in die nächste Runde. Mittendrin: Eine Migros-Verkäuferin.
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Die Sozialkommission des Ständerats ist gerade daran, die Scherben der Sommersession zusammenzulesen. Anstatt einen neuen Vorschlag zu beschliessen und erste Klarheit zu schaffen, wie die Reform der beruflichen Vorsorge ausgestaltet werden soll, brach der Ständerat vor zwei Wochen die Übung einfach ab. Die Mehrheit der kleinen Kammer entschied sich für Rückweisung der Reform mit dem Auftrag: Der kurzfristig eingereichte Antrag von FDP-Ständerat Josef Dittli (UR) soll erst geprüft und von der Kommission vertieft werden.

Den Auftrag setzt die Kommission nun um, wie die "Luzerner Zeitung" berichtet. Dittlis Antrag wollte im Kern, dass tiefe Einkommen von einem Rentenzuschlag profitieren, auch wenn sie nicht von der Reform betroffen sind. Das Paradebeispiel: die Migros-Verkäuferin.

Das Ziel der Reform

Die Frage der Kompensation ist höchst umstritten. Bundesrat, Sozialpartner sowie Grüne und SP finden, alle Versicherten sollen einen Zustupf erhalten. Steigende Lebenserwartung und tiefe Anlagerenditen führen in der beruflichen Vorsorge seit Jahren dazu, dass ein geringeres Altersguthaben für längere Zeit reichen muss. Das bedeutet: Die Pensionskassen senken den Umwandlungssatz und weil dieser die Rentenhöhe bestimmt, sinkt auch die Rente.

Das ist die Theorie. In der Praxis haben viele Pensionskassen versucht, die Renteneinbussen auszugleichen. Auch deshalb setzte sich im Nationalrat ein anderes Modell durch. Nur jene Versicherten sollen in den Genuss eines Rentenzuschlags kommen, die auch tatsächlich von der Reform betroffen sind. Und das sind alle Personen, die obligatorisch versichert sind, etwa 14 Prozent. Zum Obligatorium zählen Löhne bis maximal 86'040 Franken im Jahr. Für sie gilt der gesetzliche Mindestumwandlungssatz von 6,8 Prozent. Die Mehrheit des Parlaments sowie der Bundesrat wollen den Mindestumwandlungssatz auf sechs Prozent senken, um den längeren Rentenbezug aufzufangen.

Bei einem Alterskapital von 100'000 Franken würde das bedeuten: Anstatt 6800 Franken erhielte der Versicherte noch 6000 Franken im Jahr. Die Rente würde um 12 Prozent gekürzt. Nach Modell Nationalrat erhielten nur Personen einen Zuschuss, die von der Kürzung betroffen sind. Denn erklärtes Ziel der Reform ist: Das Rentenniveau halten.

Das Verkäuferinnen-Paradox

Bis weit in die bürgerlichen Parteien hinein, wird nun aber bezweifelt, dass ein solch schlanker Vorschlag an der Urne Erfolg haben wird. Politiker gehen davon aus, dass die Menschen nach dem Portemonnaie stimmen: Nur wenn ich profitiere, sage ich Ja.

Doch es gibt noch einen anderen Grund. Die Vorsorgepläne der Pensionskassen unterscheiden sich stark. So erhalten Personen mit tiefen Löhnen von grosszügigen Arbeitgebern mehr Möglichkeiten, ein Altersguthaben anzusparen und fallen aus den Mindestbestimmungen heraus. Das ist für die Rente in der Regel ein Vorteil. Das Modell des Nationalrats führte nun dazu, dass diese Versicherten trotz tiefer Löhne keinen Zuschuss erhielten, wie etwa die Migros-Kassiererin. Ständerat Dittli will dieses Manko mit seinem Antrag auffangen.

Tatsächlich fördert die Migros-Pensionskasse das Sparen auch für tiefere Einkommen: Sie versichert für diese 70 Prozent des AHV-Lohnes, wendet also einen Koordinationsabzug von 30 Prozent an, das Alterssparen beginnt ab 20 Jahren und die Arbeitgeberin zahlt 2/3 der Beiträge. Das führt dazu, dass eine Verkäuferin, die ab 25-jährig mehrheitlich Vollzeit arbeitet, jährlich 58’000 Franken verdient und mit 64 ordentlich in Pension geht, ein Altersguthaben von über 481’000 Franken angespart hat und eine Jahresrente von gut 26'000 Franken erhält. Zusammen mit der voraussichtlichen AHV-Rente für eine Einzelperson von knapp 24’200 kommt sie auf Altersleistungen von über 86 Prozent ihres Bruttolohnes.

«Jemand muss die Rentenzuschläge gemäss dem Vorschlag Dittli zahlen»

Christoph Ryter, Chef der Migros-Pensionskasse, sagt dazu: «Für die Mitarbeitenden haben wir stets versucht, das Rentenniveau zu erhalten.» Und: «Eine Anpassung des Mindestumwandlungssatzes tangiert unsere Mitarbeiter nicht, weil sie im Überobligatorium versichert sind.» Ryter, der früher den Pensionskassenverband ASIP führte, ist deshalb dezidiert der Meinung: «Die Reform muss sich auf den Kreis beschränken, der von einer Senkung des BVG-Mindestumwandlungssatzes betroffen ist und eine weitere Umverteilung möglichst reduzieren.»

Natürlich lässt sich argumentieren, die Migros-Mitarbeitenden würden sich ebenfalls über einen Zustupf an ihre Rente freuen. Doch Ryter entgegnet: «Die Migros-Pensionskasse hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten Anpassungen gemacht, damit Versicherte mehr Altersguthaben sparen können und auch bei tieferen Umwandlungssätzen auf gute Altersleistungen kommen.» Sie hat das Rücktrittsalter von ursprünglich 62 Jahren bis 2005 auf 64 Jahre erhöht und den Sparbeginn von 25 auf 20 Jahre gesenkt, also den Sparprozess in beide Richtungen verlängert. Ryter ist überzeugt, die Migros-Mitarbeitenden hätten ihren Beitrag geleistet, um die längere Lebenserwartung und den längeren Rentenbezug aufzufangen. «Sie müssen jetzt nicht die Finanzierungs-Lücke anderer Pensionskassen oder übertriebene Zuschläge, welche sozialpolitisch gar nicht benötigt werden, begleichen.» Denn eines ist für Ryter klar: «Jemand muss die Rentenzuschläge gemäss dem Vorschlag Dittli zahlen.» Und im System der beruflichen Vorsorge sind das im Umlageverfahren die aktiven Erwerbstätigen, auch die Migros-Verkäuferinnen.

Politik jagt einem Phantom hinterher

Wenn die viel zitierten Migros-Verkäuferinnen kaum einen Vorteil aus diesem Zustupf schöpfen, für wen betreiben die Politiker solchen Aufwand? Klar ist nämlich, dass nicht nur die Migros, sondern auch die beiden Verbände der Detailhändler das schlanke Modell des Nationalrats unterstützen.

Technisch wäre der Zustupf für überobligatorisch Versicherte mit tiefen Einkommen also nicht nötig. Das sagt auch Mitte-Ständerat Erich Ettlin (OW). Doch er findet den Vorschlag von Dittli durchaus sinnvoll. «Für Personen mit kleinen Löhnen ist es unverständlich, wieso Personen mit höheren Einkommen einen Zuschlag erhalten, während sie selber leer ausgehen.» Es handle sich letztlich um einen politischen Entscheid, eine soziale Abfederung.

SVP-Ständerat Alex Kuprecht hält dieses Vorgehen jedoch für falsch. «Nicht das Einkommen ist entscheidend, sondern das Alterskapital», sagt der Sozialpolitiker. Die Berechnungen des Vorschlags Dittli zeigten nun «sonnenklar», dass es so in jedem Fall zu einer Überkompensation komme. Kuprecht erinnert deshalb an die Aufgabe der Reform: «Wir wollen das Rentenniveau erhalten, nicht ausbauen.» Er setzt sich deshalb auch im Ständerat für das Modell Nationalrat ein. Wer wird sich durchsetzen? Und wird der Rat im zweiten Anlauf folgen? Klarheit darüber wird es erst im September geben.

veröffentlicht: 1. Juli 2022 07:54
aktualisiert: 1. Juli 2022 07:54
Quelle: Luzerner Zeitung

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