Leichtathletik

Sternstunde der Leichtathletik und des Letzigrunds

· Online seit 21.06.2020, 04:05 Uhr
Heute vor 60 Jahren, am 21.6.1960, erlebte die Leichtathletik und das Weltklasse-Meeting in Zürich eine Sternstunde. Armin Hary, der «weisse Blitz», lief als erster Mensch die 100 m in 10 Sekunden.
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Der Deutsche Armin Hary, mittlerweile 83, lebt im niederbayerischen Adlhausen, ist kerngesund und hofft, 100 Jahre alt zu werden. Er kehrte als Besucher noch mehrmals ans Meeting nach Zürich zurück. «Zürich bleibt mir in ewiger Erinnerung. Ich liebe das Meeting, ich liebe die Stadt. Hier könnte ich leben.» Bei einem seiner letzten Besuche blickte er zurück auf die Heldentat von 1960, als er innerhalb einer guten halben Stunde zweimal handgestoppte 10,0 Sekunden lief. «Heute würde ich es in der gleichen Situation nicht mehr so machen», sagt Hary - auch wenn diese Tollkühnheit ihn zur Legende machte und ein bisschen auch den Letzigrund.

Dabei stand am Vormittag dieses 21. Juni noch gar nicht fest, ob Hary würde antreten können. Der deutsche Verband verweigerte Hary die Teilnahme, er sei zuletzt zuviel gestartet. Am Mittag erhielt Hary die Einladung aus Zürich und die Starterlaubnis des Verbandes. Der Flug von Frankfurt nach Zürich war indes ausgebucht. Ein Mitarbeiter der Lufthansa liess sich mit zwei Eintrittskarten für den Cupfinal Köln - HSV bestechen, so dass Hary doch noch einen Platz in einer Frachtmaschine fand.

Nach der Anreise verlief auch das Rennen kompliziert. Hary galt als Blitzstarter. Er hatte bessere Reflexe als die Konkurrenz und viel bessere als der Durchschnitt. «Meine Reaktionszeit lag unter jenen 0,1 Sekunden, die heute für einen Fehlstart massgebend sind», behauptet Hary heute noch. Spätere Labortests bestätigten diese theoretische Möglichkeit.

Beim 100-m-Rennen in Zürich wurde der Start aber nicht zurückgeschossen. Als den 14'122 Zuschauern die Weltrekordzeit von 10,0 bekannt gegeben wurde, gab es Beifallsstürme und Pfiffe - denn viele hatten das Gefühl, Hary hätte sich einen Fehlstart geleistet.

Und plötzlich wurde auf Fehlstart entschieden. Denn der verantwortliche Starter, er hiess Walter Dischler, gab an, nur vor Aufregung nicht zurückgeschossen zu haben. Dann trat der deutsche Journalist Gustav Schwenk, ein exzellenter Regelkenner, auf den Plan. Er kannte die reglementarische Möglichkeit, den Lauf wiederholen zu können, wenn sich zumindest zwei Gegner für Hary finden würden. Hary wollte unbedingt nochmals laufen: «Den Herren Jürgen Schüttler und Heinz Müller bin ich heute noch dankbar, dass sie mit mir nochmals gelaufen sind. Ich war vollkommen überzeugt, dass ich wieder 10,0 laufen würde. Ich lief vorher noch nie auf einer so schnellen Bahn. Ich wusste: Hier oder nie läufst du Weltrekord.»

35 Minuten später wurde das Rennen wiederholt, diesmal mit Chefstarter Albert Kern an der Startpistole. Für eine Rekord-Anerkennung bedurfte es in den Sechzigerjahren drei Stoppuhren pro Bahn. Für Hary wurden zweimal 10,0 und einmal 10,1 handgestoppt. Der Rückenwind betrug wieder 0,9 m/s, und auch gegen den Start gab es nichts mehr einzuwenden. Die 10,0-Schallmauer war gefallen.

Auch der Winterthurer Heinz Müller lief beim zweiten Rennen binnen 35 Minuten schnell; er egalisierte in 10,3 Sekunden seinen eigenen Schweizer Rekord. Dass die übrigen drei 100-m-Sprinter nicht mehr starteten, entsprang keiner Böswilligkeit, vielmehr waren sie alle auch noch für das 200-m-Rennen eingeschrieben.

Jahre später wurden bei Longines und Omega, der heutigen Swiss Timing, die alten Filme untersucht und festgestellt, dass Hary in Zürich im ersten Lauf doch keinen Fehlstart begangen hatte. Auch den Zeitnehmern wurde ein gutes Zeugnis ausgestellt. Elektrisch lief Hary 10,16 und 10,25 Sekunden. Die durchschnittliche Abweichung bei Handstoppung wurde aus vielen Rennen errechnet: Sie betrug 0,24 Sekunden zu Gunsten der Läufer.

Eine Bestätigung der Technik für seine grandiose Leistung benötigte Armin Hary aber gar nicht mehr. Wenige Wochen nach dem Weltrekord im Letzigrund unterstrich er mit dem 100-m-Olympiasieg in Rom eindrucksvoll, dass er zu der Zeit der schnellste Mann der Welt war.

Ein Jahr später, mit 24, trat Hary bereits zurück, nicht wegen des Dauerzwists mit dem Verband, sondern «weil ich alles erreicht hatte». Aber Verbandskritiker ist Hary im fortgeschrittenen Alter geblieben: «Ich habe mich stets selber trainiert. Ich wusste, was für mich gut war. Eins ist sicher: Wenn ich auf die Trainer gehört hätte, dann wäre ich genauso hinterher gelaufen wie die deutschen Leichtathleten jetzt», sagte Hary vor einem Jahr im Interview mit der «Abendzeitung» aus München.

veröffentlicht: 21. Juni 2020 04:05
aktualisiert: 21. Juni 2020 04:05
Quelle: sda

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