Traumdeutung

Warum es Albträume braucht – und was sie uns zeigen

06.12.2020, 19:34 Uhr
· Online seit 06.12.2020, 15:13 Uhr
Wieso manche Personen in Träumen gesichtslos erscheinen, was Erinnerungen mit Träumen zu tun hat und warum wir Albträume haben – eine Psychotherapeutin gibt Antworten. Teil zwei des Interviews.
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Warum sind Personen in Träumen oft gesichtslos?

Da sind verschiedene Gründe denkbar – je nach persönlicher Situation. Wenn Sie das Bild «gesichtslos» wortwörtlich nehmen: Wo im Alltag kamen einem die Leute «gesichtslos», das heisst, wie eine anonyme Masse oder wie Menschen ohne Persönlichkeit vor? Oder das Bild könnte Ausdruck einer Erfahrung sein, dass man Menschen als unpersönlich erlebt; vielleicht vor allem als anonyme Rolle («die Polizistin», «der Lehrer»).

Warum fühlt sich das Aufwachen manchmal an wie ein Fall aus 100 Meter Höhe?

Eine Erklärung der Traumforschenden ist, dass dies ein Überbleibsel oder Erbe aus unserer Frühzeit der stammesgeschichtlichen Entwicklung ist.

Wenn Sie es psychologisch betrachten wollen: Wichtige Hinweise liefern hier wieder die eigenen Gefühle: Ist grosse Angst im Spiel? Oder fühlt es sich an wie eine weiche Landung aus grosser Höhe? Oder ist es ein Adrenalin-Kick wie bei einem Bungee-Sprung? Je nach Gefühlslage können Sie Ihre Alltagsthemen daraufhin überprüfen: In welcher aktuellen Situation habe ich Angst, tief zu fallen, eventuell zu scheitern? Oder in welcher Lage hebe ich zurzeit ab, spüre zu Vielem grossen Überblick oder Entspannung und Glück und lande dann wieder (abrupt vielleicht?) auf dem Boden alltäglicher Abläufe? Auch hier sind ganz verschiedene Zusammenhänge denkbar.

Sie empfehlen in Ihrem Buch für die Deutung der Träume die Landkarten-Methode, wie funktioniert das? Und was ist das Besondere daran?

Es geht darum, den ganz persönlichen Erinnerungsschnipseln auf die Spur zu kommen. Die Stichworte auf der Landkarte liefern Anhaltspunkte, um die Verbindungen zwischen den Erfahrungen vom Tag und den Bildern des Traums zu finden. Die Bildergeschichte des Traums ist im Grund eine gedankliche Zwischenetappe in Bildern aus dem Schlaf. Nach dem Aufwachen geht es darum, das, was mich im Traum beschäftigte, in Sprache zu fassen und zu ordnen. Das heisst, meine eigene Bildersprache in meine Sprache aus Worten übersetzen.

Dazu brauche ich Zugang zu meinen Erinnerungsstücken aus meinen Erfahrungen. Die Landkarte bietet Orientierungspunkte, um zu diesen Zusammenhängen zu gelangen. Die Bilder des Traums sind immer Zusammensetzungen und sie stammen aus Puzzleteilen von Erinnerungen von all dem, was ich selbst je erlebt habe und aus dem, was mich aktuell gerade beschäftigt.

Wenn ich mir selbst Zeit gebe und verschiedenen Themen gedanklich nachhänge, dann gelingt die Verbindung zwischen Bildersprache und unseren verbalen Gedanken zum Alltag. Anhand der Landkarte fragen Sie sich: Was beschäftigt mich gerade tagsüber? Welche Gefühle machte mir der Traum? Woran erinnern mich einzelne Bilder? Welche Formulierungen aus meiner Traumerzählung kann ich wortwörtlich nehmen? etc. – So wird langsam greifbar, welcher Gedankengang Sie in der Nacht beschäftigte und an welcher Lösung für das Problem Sie kombinierten. Besonders schön ist, dass Träume uns oft interessante Hinweise liefern, in welcher Richtung eine Lösung zu finden ist.

Was haben Albträume für einen Sinn?

Albträume beschreiben bildhaft eine schreckliche, überwältigende Erfahrung – die entweder auf reale Ereignisse im eigenen Leben zurückgehen oder auf Befürchtungen, dass etwas Schreckliches (wieder) eintreffen könnte. Es handelt sich um einschneidende Erfahrungen oder um Ängste, die man bisher noch nicht ausreichend einordnen konnte. Interessanterweise sind Albträume, wenn man sich nach dem Erwachen die Geschichte selbst erzählt, des Öfteren sogar nicht einmal klassische «Horrorgeschichten», sondern recht unspektakulär ablaufende Vorkommnisse. (Das kann dazu führen, dass sich die Person für den eigenen Schreck wegen des Traums sogar schämt. Der Albtraum ist aber unbedingt ernst zu nehmen.) Dass sie für die träumende Person – trotz vermeintlich «harmloser» Geschichte ein Albtraum ist, das hängt mit den überwältigenden Gefühlen des Ausgeliefert-Seins und der Angst zusammen. Diese schlimmen Gefühle sind das Kennzeichen für einen Albtraum und nicht die Dramatik der Geschichte. Zentral ist dann, um den Traum zu verstehen, die Gefühle ernst zu nehmen und herauszufinden, was so angsterregend war. Der nächste Schritt ist dann zu überlegen, an welche Situationen aus dem Alltag, an welche offenen Fragen diese Gefühle aus dem Traum erinnern. Sich um Albträume zu kümmern lohnt sich. Denn man unterstützt sich damit selbst, Erfahrungen, die man bisher noch nicht ausreichend einordnen konnte zu verstehen und zu verarbeiten.

Was bedeutet Träumen für Sie?

Träume sind ein tolles Phänomen, das uns vielseitig hilft. Einfach gesagt sind sie eine Fortsetzung unserer Gedanken in einer bildhaften, sinnlichen Sprache. Faszinierend ist: Sie stellen eine Weiterverarbeitung unserer Eindrücke aus dem Alltag dar und ermöglichen uns, kreative Lösungen für anstehende Probleme zu entdecken. Und das Allerschönste daran: Sie tun das (ungestörter Schlaf vorausgesetzt), ohne dass wir uns an sie erinnern müssen, ganz von alleine. Und wenn Träume uns zu stören beginnen, dann liefern sie uns mit den Bildern Hinweise, für welche Fragen, die uns umtreiben, wir unbedingt Antworten brauchen und in welcher Richtung die Lösung liegen könnte.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

veröffentlicht: 6. Dezember 2020 15:13
aktualisiert: 6. Dezember 2020 19:34
Quelle: PilatusToday

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