Grüne schäumen

«Wir müssen einen gerechteren Abstimmungsmodus finden»

30.11.2020, 18:43 Uhr
· Online seit 30.11.2020, 11:09 Uhr
Es ist für die Befürworter der Konzernverantwortungs-Initiative eine grosse Enttäuschung gewesen am gestrigen Abstimmungssonntag. Sie konnten eine Mehrheit der Bevölkerung für ihr Anliegen gewinnen, haben die Abstimmung aber verloren. Wegen dem Ständemehr.

Quelle: Tele 1

Anzeige

Kurz nachdem das Resultat bekannt geworden war, gingen die Wogen hoch. Vor allem die Grünen und Jungparteien – die «Verlierer» der Abstimmung – redeten gar von einer Abschaffung des Ständemehrs. «Das Ständemehr gehört auf den Müllhaufen der Geschichte», twitterte etwa die Präsidentin der Jungsozialisten (Juso), Ronja Jansen.

Etwas diplomatischer drückte sich die Grüne Berner Nationalrätin Regula Rytz aus: «Unsere direkte Demokratie ist in Schieflage», sagte sie am Sonntagnachmittag. «Wir müssen darüber reden, wie wir zu einem gerechteren Abstimmungsmodus finden.» Ein solcher Modus könnte zum Beispiel eine qualifizierte Mehrheit sein. Das heisst, das Ständemehr würde ein allfälliges Volksmehr nur überstimmen, wenn zwei Drittel der Kantone anderer Meinung wären. Mit diesem Modus wäre die Konzernverantwortungs-Initiative (Kovi) angenommen worden.

Darum sind die Kovi-Befürworter aufgebracht

Für einen Erfolg der Vorläge hätte die Kovi 12 Standesstimmen gebraucht. Sie erreichte nur 8,5, was angesichts des erreichten Volksmehrs umso erstaunlicher scheint. Der Zürcher «Tages-Anzeiger» hat denn auch berechnet, dass am Ende lediglich 6’000 Stimmen aus den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Glarus, Schaffhausen und Uri den Ausschlag gaben. Das ist symptomatisch und zeigt die Problematik des Ständemehrs: Es gibt bevölkerungsarmen Kantonen, die eher rechts-bürgerlich wählen, eine grosse Macht im politischen System der Schweiz.

Historische Seltenheit

Dass bei einer Volksinitiative das Ständemehr den Mehrheitswillen überstimmt, hat es überhaupt erst ein einziges Mal gegeben. Das war 1955 bei der Initiative «zum Schutz der Mieter und Konsumenten». Aber auch sonst scheitern Verfassungsvorlagen selten nur am Ständemehr – bisher erst neun Mal. Zuletzt passierte dies im März 2013 beim sogenannten Familienartikel, der Bund und Kantone verpflichtet hätte, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.

Noch seltener geschieht es übrigens, dass Vorlagen von den Ständen angenommen, aber vom Volk abgelehnt werden. Das ist sogar erst viermal passiert. Zuletzt 2016 bei der Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe».

Veränderung des Ständemehrs benötigt Ständemehr

Ob es also eine Anpassung oder gar Abschaffung des Ständemehrs wegen einzelner Vorlagen braucht, kann bezweifelt werden. Im Übrigen erhält dieses Instrument durchaus Unterstützung: «Unser Land lebt vom Ausgleich, auch mit den weniger grossen Kantonen und einer Bevölkerung, die anders denkst als jene in den Städten», gibt Andrea Gmür, Luzerner CVP-Ständerätin, im «Tages-Anzeiger» zu bedenken.

Darüber hinaus begründet der Politgeograf Michael Hermann, warum eine solche Debatte wohl nicht weit führen werde: «Erstens braucht es zur Abschaffung wiederum das Ständemehr, und zweitens sind institutionelle Regeln, die es schon sehr lang gibt, kaum zu ändern», so der Geschäftsführer der Forschungsstelle sotomo gegenüber der Zürcher Tageszeitung.

Ähnlich ordnet das Martina Mousson, Politologin am Forschungsinstitut Gfs Bern, für CH Media ein. Sie gibt jedoch zu bedenken, wenn «die kleinen Deutschweizer Kantone in nächster Zeit wiederholt Vorlagen zu Fall bringen, welche eine Mehrheit der Bevölkerung in der Romandie und den grossen Städten befürwortet, gewinnt die Diskussion über das Ständemehr sicher an Fahrt.»

(kra)

veröffentlicht: 30. November 2020 11:09
aktualisiert: 30. November 2020 18:43
Quelle: PilatusToday

Anzeige
Anzeige
redaktion@pilatustoday.ch