So ticken Fussballchaoten

«Je jünger, desto unberechenbarer»

21.04.2023, 09:47 Uhr
· Online seit 21.04.2023, 06:56 Uhr
In Luzern kommt es regelmässig zu Vandalismus und Gewalt vor und nach Fussballspielen. Was geht in diesen Randalierenden vor? Einen Einblick gibt der Soziologe Maurice Illi, der sich wissenschaftlich mit Hooliganismus auseinandergesetzt hat.
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Der FC Luzern hatte Grund zum Feiern vergangenen Samstag: Mit 4:1 gewann das Team gegen den FCZ und spielte sich auf Platz drei. Weniger Grund zur Freude gab es neben dem Platz: Einmal mehr kam es zu Ausschreitungen, wobei diesmal Chaoten aus dem Umfeld des FC Zürich die Polizei angriffen. Doch was steckt überhaupt hinter dem Phänomen «Fussballchaoten»? Weshalb schlagen wütende Stadiongänger gegenseitig aufeinander ein, beschädigen Autos von Unbeteiligten und zerstören ganze Züge und Busse?

Quelle: Leserreporter

Einen Erklärungsansatz dafür hat Soziologe Maurice Illi, wie das Interview mit der «Luzerner Zeitung» zeigt. Mit Fussballfans und -chaoten kennt er sich bestens aus: Er hat Erfahrung in Fanarbeit und amtierte während zwölf Jahren als Sicherheitsmanager der Stadt Luzern – damals eine Pionierrolle. Zudem befasste er sich im Rahmen seiner Lizenziatsarbeit mit Hooliganismus in der Schweiz. Darin hat er auch Aussagen von aktiven Hooligans ausgewertet. «Mittendrin statt nur dabei» lautet der Untertitel.

Maurice Illi, was treibt die Fussballchaoten dazu, gewalttätig zu werden?

Die Fans in der Kurve sind Teil einer Subkultur – mit ihren eigenen Ritualen, Werten und Normen, die sie gemeinsam ausleben. Grundsätzlich ist das nicht negativ. Das lässt sich beispielsweise auch auf Menschen übertragen, die an jedes Konzert ihrer Lieblingsband reisen: Man teilt sich einen Lebensinhalt.

Aber wie das in unserer Gesellschaft ist, spielen überall unterschiedliche Exponenten rein. Als Anhänger der «Wintersport-Subkultur» muss ich auf der Piste ebenfalls feststellen, dass es rücksichtslose Menschen gibt. Und so gibt es auch im Fussball solche, die das Erlebnis ausreizen. Sie suchen einen Kick, eine Provokation. Dann reicht es nicht mehr, mit seinen Freunden um die halbe Schweiz zu reisen und das Team anzufeuern – sie brauchen mehr Adrenalin. Gewaltbereite Fussballfans sind vergleichbar mit Adrenalinjunkies von Extremsportarten, in ihren Körpern gehen ähnliche Dinge vor.

Kann man bei diesen Menschen überhaupt von «Fans» sprechen?

Alle, die in ein Fussballstadion gehen, um ein Spiel zu verfolgen, haben eine gewisse Faszination für den Sport – und dann spricht man schnell von «Fan». Sie alle bezahlen Eintritt und opfern ihre Zeit. Mir ist bewusst, dass ein treuer Jahreskarteninhaber nicht gleich betitelt werden will wie die Person, die hinter dem Stadion Autos demoliert. Würde man jede Unterkategorie aufschlüsseln, würde das die gesamte Zeitung füllen.

Der Begriff «Fussballchaoten» kommt den Geschehnissen am nächsten. Wörtlich betrachtet hinterlässt ein «Chaot» ein Chaos. Von dieser Bezeichnung kann sich auch ein Fan abgrenzen. «Idiot» trifft es nicht, weil diese randalierenden Personen per se nicht dumm sind.

Auch die Fans in den Kurven verurteilen gewalttätige Chaoten stark, weil sie ein schlechtes Licht auf die Szene werfen. Die Fans wollen aber vor allem den Fussball geniessen und nicht Sozialarbeiter spielen.

Wie erklären Sie sich die zahlreichen Vorfälle der letzten Wochen – hat sich etwas verändert in der Szene?

Es sind «wellenförmige» Ereignisse: mal mehr, mal weniger. Das ist typisch für Subkulturen. Vielleicht sind neue Menschen dazugestossen, die etwas «erleben» und weniger den Fussball unterstützen wollen. Oder sie sind sich den Werten, die innerhalb der Subkultur gelebt werden, noch nicht so bewusst und suchen nach mehr Adrenalin, als ihnen geboten wird.

Das war auch schon vor 20 Jahren so, als ich mich erstmals mit dem Thema befasst habe. Was man sagen kann: je jünger die Szene, desto unberechenbarer. Es scheint, als wäre eine neue Generation dazugestossen, die sich zuerst die Hörner abstossen muss.

Dies könnte einen Zusammenhang mit der Pandemie haben: Clubs und Bars waren länger geschlossen als Fussballstadions. Die Fankurve bot eine Alternative für viele jungen Menschen. Der grosse Ansturm nach dem Lockdown führte dazu, dass viele 14- bis 18-Jährige die Sozialisierung innerhalb der Subkultur Fussball im Schnelldurchlauf erlebten. Für die Fankurven ist das eine grosse Herausforderung, weil aktuell mehr jüngere Personen im Stadion sind, und diese sich über die Konsequenzen ihres Tuns – für die ganze Fan-Szene – noch nicht so bewusst sind.

Die Rede ist von Chaoten, nicht Chaotinnen. Weshalb ist das ein Männerproblem?

Wirft man einen Blick in die Geschichte, war Fussball ursprünglich eine männliche Sportart. Mit kurzen Unterbrüchen während der Weltkriege haben Frauen kaum Fussball gespielt. Somit waren auch die Fans mehrheitlich männlich, wobei die Frauen jetzt stark am Aufholen sind.

Ebenfalls einen Einfluss hat die Vernunft: 16- bis 25-jährige Männer sind an der Spitze von diversen Unfallstatistiken. Junge Männer sind risikobereiter, was sich auch in der Gewaltbereitschaft zeigt. Zwar kommt es durch mehr Frauen in der Kurve zu mehr Durchmischung – schlussendlich bleiben es aber die Männer unter 25, die hinter dem Stadion ein Chaos hinterlassen.

Sind die politischen Forderungen nach härteren Massnahmen in Ihren Augen zielführend?

Wir brauchen sicher keine Massnahmen, deren Umsetzung und Wirkung nicht ausdiskutiert wurden. Besonders, wenn die Massnahme nicht am Ursprung des Problems ansetzt. Man muss die guten Fans stärken und nicht weitere Verbote schaffen und damit auch die Guten bestrafen. Es braucht kein «Wir wollen euch nicht», sondern ein «Wir wollen das nicht». Das ist ein riesiger Unterschied.

Zum Beispiel «keine Auswärtsfans mehr»: Die Fans finden immer einen Weg, wenn sie ihren Club spielen sehen wollen. Verbietet man Instrumente wie Extrazüge oder Anfahrtsrouten, stehen wir vor einer unkoordinierten Welle, die auch «kreative» Wege zum Stadion findet. Dabei können gefährlichere Situationen entstehen. Gerade in Luzern würde so langjährige Arbeit im Umgang mit Fans zunichte gemacht.

(LZ/Miriam Abt)

veröffentlicht: 21. April 2023 06:56
aktualisiert: 21. April 2023 09:47
Quelle: Luzerner Zeitung

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