Das Sportjahr 2010

Von einer Wachablösung und einem krummen Stab

· Online seit 03.06.2020, 14:25 Uhr
Olympiasieger und andere herausragende männliche Athleten prägen das Schweizer Sportjahr 2010. In einer Rückschau picken wir Ereignisse heraus.
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Am prächtigen blauen Sonntagmorgen des 22. August 2010 legte sich ein Bodennebel über Frauenfeld. Der Schleier war aber so fein, dass er die Sicht für die 50'000 in der Schwingerarena nicht trübte. Die 50'000 und Hunderttausende an den Fernsehschirmen verfolgten den wichtigsten der acht Gänge am Eidgenössischen Schwingfest: Jörg Abderhalden, 31-jähriger Titelverteidiger und dreifacher Schwingerkönig vom Toggenburg, mass sich mit dem 20-jährigen Kilian Wenger aus dem Diemtigtal im Berner Oberland.

Es ging um nichts weniger als um die Wachablösung. Wenger hatte alle vier Gänge des Samstags gewonnen, während Abderhalden im Anschwingen mit dem Seeländer Hünen Christian Stucki remisiert hatte. Abderhalden musste Wenger bodigen, sonst würde er entscheidend zurückfallen.

In den ersten Minuten attackierten beide. In der 5. Minute brachte Wenger den Gegner mit einem Hüfter auf den Nacken. Die linke Schulter war schon im Sägemehl, die rechte konnte Abderhalden gerade noch über dem Boden halten. Es benötigte jetzt Bärenkräfte, um dem Druck nicht nachzugeben. Aber nach 57 Sekunden brach die Brücke ein.

Es war der Augenblick der Wachablösung, der die Arena fast aus den Fugen geraten liess. Wenger siegte in den weiteren drei Gängen souverän. Vor Wenger hatte zuletzt Jörg Abderhaldens Onkel und Götti Ernst Schläpfer 1980 in St. Gallen alle acht Gänge gewonnen, und noch vorher Ruedi Hunsperger 1969 in Biel.

Das Eidgenössische in Frauenfeld markierte auch die Wachablösung unter den Teilverbänden. Die Nordostschweizer hatten ab 1995 fünfmal in Folge den König gestellt: Nebst Abderhalden triumphierten je einmal Thomas Sutter und Arnold Forrer. Wenger eröffnete 2010 eine noch anhaltende Berner Serie, in die sich auch Matthias Sempach, Matthias Glarner und Christian Stucki reihten.

Kein Vorbeikommen an Simon Ammann

Der Naturbursche Kilian Wenger wurde über das Bernbiet hinaus ungeheuer populär. An den Sportlerwahlen «Credit Suisse Sports Awards» im Dezember erhielt er vom TV-Publikum mehr stimmen als jeder andere - mehr auch als Simon Ammann, der dank den Ergebnissen der Vorwahlen bei Medien und Spitzensportlern dennoch souverän und verdient Schweizer Sportler des Jahres wurde. Wenger stiess auf den 2. Platz vor, indem er dank der Gunst des Publikums erfolgreiche Grössen wie Roger Federer, Carlo Janka, Dario Cologna, Fabian Cancellara überholte. Im Welschland, in dem der Schwingsport wenig bekannt ist, mochten sie sich fragen, wer eigentlich dieser Wenger sei.

In kaum einem anderen Jahr war die Auswahl an herausragenden Schweizer Sportlern des Jahres so breit wie 2010. Federer, Gewinner des Australian Open, wurde Dritter. Die Olympiasieger Carlo Janka und Dario Cologna wurden Vierter und Fünfter. Fabian Cancellara, Sieger der Monumente Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix, fand sich im 6. Rang wieder. Olympiasieger Didier Défago schied im ersten Wahlgang aus und wurde Zehnter. In «normalen» Jahren wäre Défago, Olympiasieger in der Königsdisziplin Abfahrt, als Sportler des Jahres designiert gewesen.

Aber tatsächlich war 2010 das zweite ganz grosse Jahr des Simon Ammann. Wie schon 2002 in Salt Lake City gewann der Toggenburger in Vancouver die Olympia-Wettkämpfe auf der Normalschanze wie auch auf der Grossschanze. Als zweifacher Doppel-Olympiasieger im Skispringen nimmt er noch heute eine Sonderstellung ein.

Unvergesslich aus den Tagen in Vancouver ist die Posse um die Schweizer Geheimwaffe, den gekrümmten Bindungsstab. Die österreichische Mannschaftsleitung um Cheftrainer Alexander Pointner und Nordisch-Direktor Toni Innauer wollte wegen der Manipulation des Bindungsstabs einen Protest einlegen und Ammann disqualifiziert wissen. Vor dem Protest liess die FIS vorsorglich verlauten, was von Vornherein klar war: Das Krümmen des kleinen Elements ist nach den Reglementen nicht verboten. Also ist es erlaubt. Die Vorgesetzten des Austria-Teams verzichteten grossmütig auf den Protest und schrieben in einem Communiqué: «Heute (auf der Grossschanze) soll einzig der sportliche Wettkampf in einer tollen Atmosphäre im Vordergrund stehen.» Pointner und Innauer hatten sich zu diesem Zeitpunkt längst den Unmut ihrer eigenen Athleten zugezogen. Diese hatten nie verlangt, dass man gegen die Schweizer und insbesondere gegen Ammann rechtlich vorgehen solle. Selbst wenn Ammann für beide Wettbewerbe disqualifiziert worden wäre, hätten die Österreicher in Vancouver keinen Einzel-Olympiasieger gestellt. Denn auf beiden Schanzen gewann der Pole Adam Malysz Silber.

Im Teamwettbewerb waren die Österreicher erwartungsgemäss unangefochten die Besten. Als Quartett waren Gregor Schlierenzauer, Thomas Morgenstern, Andreas Kofler und Wolfgang Loitzl in jenen Jahren kaum zu schlagen.

veröffentlicht: 3. Juni 2020 14:25
aktualisiert: 3. Juni 2020 14:25
Quelle: sda

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