Nichts essen, nichts trinken

Als Atheist beim Ramadan mitfasten? Redaktor macht den Selbstversuch

06.05.2021, 11:38 Uhr
· Online seit 05.05.2021, 16:11 Uhr
Hunderttausende Menschen praktizieren zurzeit den Fastenmonat in der Schweiz. Wie schwierig ist es in einer Gesellschaft, die sich um das gemeinsame Zmittag oder Kaffee dreht, tagsüber auf Essen und Trinken zu verzichten? Ich habe es eine Woche lang versucht.
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Im April und Mai soll ich vom muslimischen Fastenmonat berichten. Nach ein paar Gesprächen mit Freunden und Kollegen stelle ich fest, dass ich darüber viel weniger weiss, als ich dachte. Um mich besser in die Menschen hinein zu fühlen, die jedes Jahr fasten und dabei in einem christlich geprägten Land leben, wage ich den Selbstversuch. Zumindest eine Woche lang.

Von Montag bis Sonntag, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, heisst das grob: kein Essen, kein Trinken, kein Rauchen, kein Alkohol, kein Sex, kein Kaugummi. «Du wirst keine Minute durchhalten!» Meine Frau scheint von meinem Durchhaltewillen weit weniger überzeugt zu sein als ich.

Montag, 6.30 Uhr

Mein Frühstück erinnert eher an das Mittagessen eines Akkordmaurers. Eine halbe Stunde habe ich noch Zeit, um alles runterzukriegen, bevor die Sonne in Luzern aufgeht. Danach müssen mein Mund und Magen bis 20.30 Uhr leer bleiben. Zum Glück habe ich heute Frühdienst, denke ich mir. So fühlt sich der Arbeitstag von 5.30 bis 14.30 Uhr nicht so viel anders an als sonst, bis auf den immer grösser werdenden Durst, den die Schutzmaske noch verschlimmert. Bis zum Arbeitsschluss halte ich aber einigermassen gut durch.

Um mir nach Feierabend irgendwie die Zeit bis zum Sonnenuntergang zu vertreiben, installiere ich nach Jahren wieder «Witcher 3» und game den Hunger weg. Eine aktivere Form der Beschäftigung liegt einfach nicht drin. Ich erinnere mich an Kollegen, die während des Fastenmonats am Sportunterricht teilnahmen oder nach der Arbeit ins Gym gehen und frage mich, woher sie die Energie dafür nehmen. An Sport ist für mich während dieser Woche nicht zu denken.

Kurz nach 20.30 Uhr ist es endlich soweit und mein Handy klingelt mich aus dem Hungermodus. Zuerst gibt es aber das beste Glas Wasser, das ich jemals getrunken habe. So viel Essen in mich reinzuschaufeln, wie ich mir in meinen Hungerfantasien vorstelle, schaffe ich nicht. Es reicht gerade einmal für zwei grosse Teller Pasta.

Die nächsten drei bis vier Tage verbringe ich ähnlich. Früh aufstehen, (fr-)essen, versuchen, zwei Liter Wasser runterzukriegen und irgendwie nicht daran zu denken, erst am Abend wieder essen und trinken zu dürfen. Zu schaffen machen mir unregelmässige Arbeitszeiten, dennoch bin ich froh, keine körperlich schwere Arbeit leisten zu müssen. Ich begreife jetzt, warum mein Kollege Muhammed immer in der ersten Ramadan-Woche Ferien nimmt.

Obwohl eine Woche keine lange Zeit ist, gestaltet sich mein Versuch härter als gedacht. Ich merke, wie viel sich in unserer Gesellschaft ums Essen und Trinken dreht. Beim Mittagessen langweile ich mich neben schmatzenden Kollegen und lehne fast jeden Tag irgendeine Einladung ab. Ich stelle mir vor, wie wichtig ein «Support-System» aus Familie, Freunden oder Glaubensgemeinschaft für fastende Muslime sein kann, vor allem, wenn man in einem nicht-muslimischen Land lebt.

An den Nachmittagen finde ich es am schwierigsten durchzuhalten. Kopfschmerzen tauchen immer wieder auf. Kommt es von zu wenig Wasser oder vom Koffein-Entzug wegen fehlendem Kaffee? Auch beim Heimkommen nach der Arbeit tue ich mich schwer, nicht wie sonst instinktiv sofort vor dem Kühlschrank zu stehen. Gamen half mir dabei am besten abgelenkt genug, aber nicht angestrengt zu bleiben.

Selbstversuch ist sinnvoll

Am Mittwoch bin ich bei der bosnischen Moschee in Emmenbrücke zu Besuch für einen Dreh. Mitten im Industriegebiet, wo das liebevoll eingerichtete Gotteshaus seinen Sitz hat, frage ich Izeta Saric von der islamischen Gemeinschaft Luzern, was sie von meinem Selbstversuch hält.

«Ich denke, dass das sinnvoll ist», so die muslimische Religionslehrerin. Ein solcher Selbstversuch könne Verständnis und Bewusstsein schaffen, für Menschen für Gottes Willen bewusst verzichten. «Du wirst den Unterschied merken, zwischen echtem Hunger und Appetit, aber auch das Fasten nichts mit blankem Hunger zu tun hat.»

Am Donnerstag verpasse ich es, früh genug aufzustehen, um zu frühstücken. «Fuck», denke ich, obwohl man beim Ramadan nicht fluchen sollte. Ganz ohne Essen und Trinken im Magen gestaltet sich mein Tag dann so zäh wie erwartet. Als Redaktionskollege Muhammed mir dann erklärt, dass er selber vor dem Fasten morgens nur ein Joghurt oder einen Shake nimmt, rückt das meine Perspektive wieder zurecht. Einfach machen und weniger nachdenken.

Mit dem nahenden Wochenende bessert sich meine Laune. Auch mein Körper fängt an, sich an die neue Situation zu gewöhnen und die Kopfschmerzen lassen nach. Geht die Sonne unter, renne ich nicht mehr gleich in die Küche, um etwas zu trinken, sondern lasse mir Zeit. Zu sagen, dass ich zu Höchstleistungen auflaufe, wäre aber gelogen und meine besten Artikel habe ich bestimmt nicht während der Fastenwoche geschrieben. Dafür spare ich mir Zeit und Arbeit rund ums Mittagessen. Beim Kochen hätte ich einmal fast gegen die Fastenregeln verstossen, als ich das köchelnde Essen vor mir probieren will. Weil die Sonne noch nicht untergegangen war, musste meine Frau das Abschmecken übernehmen. An den Tagen, an denen ich zu Hause arbeite, schätze ich es, keine Maske tragen zu müssen. Das hilft etwas gegen den Durst.

Am Samstag und Sonntag leiste ich es mir, die Nacht zum Tag zu machen. Ein kleiner, fünfstündiger Powernap am Nachmittag macht das Fasten einfacher und hilft, Zeit totzuschlagen. Lange überlege ich mir, mit welchem Essen ich das letzte grosse Fastenbrechen am Sonntag einläuten will. Neben Möglichkeiten wie Pizza, Falafel, Curry oder selbst gemachtem Burger setzt sich am Ende eine grosse Schüssel Müesli durch.

Mein Fazit

Die für mich grösste Erkenntnis aus diesem Versuch war das Bewusstsein, wie Muslime mit dem Fastenmonat den grössten islamischen Feiertag, den «Eid», einleiten. Das Fest des Fastenbrechens ist vergleichbar mit Weihnachten oder Ostern, doch während diese Festlichkeiten in meiner Familie einfach passieren, «verdienen» sich viele Muslime ihren grössten Feiertag mit dem Fastenopfer, das immerhin einen von zwölf Monaten in jedem Jahr beansprucht. Diese Tatsache war mir vorher gar nicht richtig bewusst.

Auch wenn der Versuch für mich schwierig und anstrengend war, heisst das nicht, dass alle Fastenden dasselbe empfinden müssen. Während die Erfahrung für mich nur von Hunger und Durst geprägt war, verbinden Gläubige das Fasten mit Seelenheil und Spiritualität. Unter diesen Aspekten lässt sich meine Erfahrung nicht mit dem vergleichen, was für mehr als eine Milliarde Muslime auf der ganzen Welt zum Leben dazugehört.

Am Ende bin ich fast ein bisschen traurig, dass die Woche vorbei ist. Schade, dass ich mich nicht für einen Monat entschieden habe, denke ich mir. Gerne hätte ich herausgefunden, ob ich dies auch schaffen und wie ich darauf reagieren würde. Das Gute: Nächstes Jahr gibt es wieder Gelegenheit dazu.

veröffentlicht: 5. Mai 2021 16:11
aktualisiert: 6. Mai 2021 11:38
Quelle: PilatusToday

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