Snowboard-Unfall in Coronazeiten

Und plötzlich erinnert er sich nicht

· Online seit 17.01.2021, 18:34 Uhr
Momentan sollten wir nicht auf die Skipisten. Wegen der Pandemie, wegen des Gesundheitspersonals. Aber manchmal machen wir, was wir nicht sollten. «Da geschieht schon nichts Böses», denken wir uns. Und dann passiert doch, was nicht passieren sollte.
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Laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung gibt es jährlich 63‘000 Unfälle auf der Piste. Ich erzähle euch von einem dieser Unfälle, den mein Freund Vinu erlebt hat.

«Was ist passiert? Du hast es mir sicher schon erzählt. Diesmal vergesse ich es nicht, versprochen.» – «Du bist gestürzt, rücklings auf den Kopf.» – «Hani Seich gmacht?» – «Nei häsch nid! Es ist dumm gelaufen. Auf der Piste. Du wolltest einen Trick machen, dann hast du wohl verkantet.» – «Aha. Wo sind wir?» – «Im Engadin, St. Moritz.» Verdatterter Blick. «Was ist passiert? Warum schaust du so traurig?» – «Du hast mich schon so oft gefragt.» – «Wie oft?» – «Vielleicht zehn, zwanzig Mal, ich habe nicht gezählt.» – «Oh shit.» Ruhe und Geduld. Ich erzähle es nochmals, zeige im Schnee vor, wie er gefallen ist. Schenke ihm Tee nach.

Wirrwarr im Hirn

Wir sind hoch oben auf dem Gipfel. Wo wir unseren Rucksack deponiert haben, da ist per Zufall auch ein weisses Kreuz auf grünem Grund. Ein Sanitäter hat Vinu in die Augen geschaut, auf die Pupillen. Er sagte, es sehe gut aus. Die Verwirrung sei normal, bei einem Sturz auf den Kopf. Aber Vinu fragt und fragt immer dieselben Fragen. «Was ist für ein Tag?» – «Was denkst du?» Er überlegt. «Ich tippe auf Winter», sagt er und betrachtet das Skigebiet. Weiter beantworte ich die Fragen und versuche so zu tun, als müsste er die Antworten nicht längst kennen. So wie man das bei demenzkranken Menschen machen sollte.

Wir wechseln in den Container der Sanität, dort ist es wärmer. «Du solltest dich hinlegen.» Das macht er, aber die Verwirrung bleibt. «Hast du Schmerzen?» – «Nur ein wenig, der Kopf.» Er versucht immer wieder zu rekapitulieren, was passiert ist. Die Wörter machen ihm zu schaffen, er verdreht die Buchstaben. «Was soll ich machen?», frage ich den Sanitäter. «Vielleicht ist es besser, sie gehen runter vom Berg.» – «Wo kann ich einen Arzt aufsuchen?» – «Fahren sie nach Samedan ins Spital, St. Moritz ist mehr für Knochenbrüche.»

Runter von diesem Berg 

«Vinu, kannst du gehen?» – «Ja, ich bin nur verwirrt, was ist passiert?» Ich erkläre. «Aber ich hatte einen Helm auf?» Ich erkläre, packe die zwei Helme, den Rucksack, die Snowboards, der Sanitäter nimmt mir eines ab und führt uns zum Sessellift. Wir fahren runter, diese idyllische Bergwelt, dieses Chaos. Fragen um Fragen. Manchmal muss ich verzweifelt lachen und gleichzeitig kommen die Tränen, wenn ich antworte.

Wir wechseln auf die grosse Gondel. Vinu muss aufs Klo. Als er nach wenigen Minuten nicht zurückkommt, öffne ich vorsichtig die Türe. Er wäscht sich gerade die Hände, kommt. Beim Durchgang zur Gondel findet er seine Ski-Karte nicht, sucht in den Taschen. Ich sage dem Gondelführer, dass Vinu die Karte irgendwo hat und gerade nicht findet, «aber er muss hier runter!» Der Typ schüttelt den Kopf und sagt in gebrochenem Englisch, er müsse nun los. Er fährt. Ich weine. «Nei Caro chum zu mir, nid brüäle.» Vinu umarmt mich über den Zaun. Scheiss drauf, ich halte einfach nochmals meine eigene Karte an den Automaten. Es klappt, «komm durch!»

Nur, um sicher zu sein

«Sollen wir ein Taxi nehmen? Wie geht es? Hast du Schmerzen?» – «Ein wenig, der Kopf. Bin ich drauf gestürzt? Verkantet, oder was?» Mein Handy ist tot. Wohl wegen der Kälte, es reagiert nicht. Ich sehe kein Taxi, aber einen Skifahrer an der Bushaltestelle. «Wo fährt der Bus nach Samedan?» – «Hier drüben, er kommt gleich um die Ecke.» Ich schaue auf den Plan, der fährt direkt zum Spital. Wir steigen ein. «Wo gehen wir hin?», fragt Vinu wieder. «Ins Spital. Einfach um sicher zu sein, dass du okay bist. Der Sanitäter sagte, es sei gut.» Vinu fragt mich das wieder und wieder. Ich wünsche mir ein Tonband, um zu antworten. «Und du bist meine Grossmutter?» Das Humorareal im Hirn scheint nicht betroffen zu sein. Im Kurzzeitgedächtnis, dort wütet gerade ein Tornado. Ich halte ihn ganz fest, mein Kopf an seiner Schulter, und erzähle vom Unfall. Die ältere Frau hinter uns hört das sicher. Ob sie sich denkt: «Wieder solche, die unser Gesundheitspersonal in Pandemiezeiten auf Trab halten»? Ich hoffe nicht. Das schlechte Gewissen nagt.

Im Spital sind alle sehr hilfsbereit und freundlich. Die ganze Prozedur geht schnell, mehrere Stunden, aber schnell. Sie scannen seinen Kopf und seinen Rücken. Zwischendurch ist Vinu wieder bei mir. Er kann sich nicht an Situationen erinnern, welche die Fotos auf seinem Handy zeigen. Silvester, Weihnachten, gelöscht. «Was habe ich dir geschenkt?» – «Ein grosses Bild, von den kaputten Schlössern unseres Vans. Den wollten sie doch klauen, im Sommer in Portugal. Du sagtest, das Bild zeige, wie wir unzerstörbar seien.» Jetzt kommen ihm die Tränen. «Ich kann mich nicht daran erinnern.» Ich drücke ihn. «Das kommt schon wieder.»

Gewissheit im Spital

Der Arzt kommt mit der Diagnose: «Sie haben ein Schädel-Hirn-Trauma. Aber der Scan des Kopfs hat gezeigt, dass es keine Blutungen gibt. Den Rücken müssen wir noch genauer anschauen. Sie sollten sich nicht bewegen.» – «Was bedeutet Schädel-Hirn-Trauma? Gehirnerschütterung? Kommen die Erinnerungen wieder?», frage ich. «Genau. Die sollten mit der Zeit wiederkommen.» – «Wie lange geht das?» – «Schwierig zu sagen, das ist sehr unterschiedlich, vielleicht eine Woche. Vom Rücken müssen wir noch ein CT machen, sie müssen liegen bleiben.» – «Was ist denn damit?» – «Der unterste Wirbel sieht eingedrückt aus. Wir müssen untersuchen, was genau los ist.»

Toilette, bitte

Wieder zu zweit sagt Vinu: «Ich muss kacken.» – «Ich weiss, dafür ist der Topf.» – «Kann ich nicht normal auf die Toilette?» – «Nein, leider darfst du nicht aufstehen.» – «Warum?» Ich sage es, aber er wird es wieder vergessen. «Wieso bin ich so verwirrt?» – «Wegen der Gehirnerschütterung.» – «Arbeite ich noch bei der Baloise?» – «Ja, aber du hast gekündigt.» Sorgenvoller Blick. «Auf wann?» – «Ende April.» – «Und jetzt ist?» – «Der 4. Januar.» Tränen. «Kommen diese Erinnerungen wieder?» – «Der Arzt sagt ja.» – «War ich ein guter Freund zu dir?» – «Der Beste!» Ich küsse ihn.

Wieder Auftritt des Arztes: «Alles okay, da ist kein Bruch, sie hatten Glück.» Tonnen fallen vom Herzen. Der Rücken ist ganz. Vinu kann aufstehen und auf die Toilette. «Wir behalten sie eine Nacht hier zur Überwachung. Falls es Blutungen im Hirn gibt, müssen wir reagieren können.» Nachdem ich mit der Arbeitgeberin abgeklärt habe, was für eine Versicherungsklasse gilt, werden wir aufs Zimmer gebracht. Weg vom Notfall, weg von den zahlreichen anderen Schneesportunfällen.

Alles wird gut

Langsam kehrt ein wenig Normalität ein. Selektiv treten Erinnerungsfetzen hervor. «Ich habe das Krimi-Dinner gelöst, an Silvester!» – «Richtig. Du und Isabella haben richtig getippt.» Wir liegen in seinem Krankenbett. «Wenn ich dich hier unter der Decke verstecke, dann merkt das niemand», sagt er. «Könnte klappen, aber ich sollte dich wohl alleine ausruhen lassen. Morgen hole ich dich wieder.» Wir kuscheln. Er flüstert: «Danke, dass du mich gerettet hast.»

veröffentlicht: 17. Januar 2021 18:34
aktualisiert: 17. Januar 2021 18:34
Quelle: PilatusToday

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