Brisantes Gesetz

Abtreibungsverbot in den USA: Das solltest du wissen

· Online seit 04.05.2022, 13:09 Uhr
Die Vereinigten Staaten werden einmal mehr von innenpolitischen Tumulten heimgesucht: Der Oberste Gerichtshof will Schwangerschaftsabbrüche verbieten. Das Vorhaben ist höchst umstritten, die Folgen könnten das politische System erschüttern. Unser Q&A liefert dir einen Überblick.
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Das US-amerikanische Nachrichtenportal «Politico» hat am Montagabend einen 98 Seiten langen Gesetzesentwurf geleakt – und prompt ein politisches Erdbeben ausgelöst. Denn das Dokument stammt von ganz oben: vom Supreme Court, dem obersten Gerichtshof der USA. Und dieser will nichts geringeres, als Frauen das Recht auf Abtreibung zu verbieten.

Um was geht es genau?

Um die aktuelle Polemik besser zu verstehen, müssen wir die Uhr ganz kurz um 50 Jahre zurückdrehen: Im Jahre 1973 hatte der Supreme Court, der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, den Grundsatzentscheid «Roe v. Wade» ausgesprochen. Dieser besagte, dass die Verfassung der USA das Abtreibungsrecht einer schwangeren Frau, so auch jenes der damals 25-jährigen Klägerin Jane Roe, zu schützen hatte. Mit dieser Entscheidung wurden zahlreiche Abtreibungsgesetze auf Bundes- und Landesebene ausser Kraft gesetzt.

Der Supreme Court, allen voran Initiant Samuel Alito, will «Roe v. Wade» nun kippen. Sprich: Es wäre wieder jeder der 50 Bundesstaaten selbst für die Regelung des Abtreibungsgesetzes zuständig. Je nach Bundesstaat unterscheidet sich die Gesetzeslage teils erheblich; liberale Staaten wie Kalifornien würden eine Abtreibung wohl weiterhin erlauben. Sorgen machen sich Abtreibungsbefürworter aber nicht um Kalifornien, sondern um die konservativen Bundesstaaten: In mindestens 13 von ihnen würde der Schwangerschaftsabbruch praktisch automatisch illegal.

Wie argumentiert Richter Alito?

Samuel Alito gilt als einer der konservativsten amtierenden Richter des Supreme Courts. Der im Jahre 2006 vom damaligen Präsidenten George W. Bush nominierte Katholik schreibt im Gesetzesentwurf unter anderem, dass das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nie «in der Geschichte und Tradition dieser Nation verwurzelt» gewesen sei.

Auf den «Roe v. Wade»-Entscheid von 1973 nimmt er wie folgt Bezug: «Die Argumentation war aussergewöhnlich schwach, und die Entscheidung hatte schädliche Folgen. Es ist an der Zeit, die Verfassung zu beherzigen und die Frage der Abtreibung wieder den gewählten Vertretern des Volkes zu überlassen.»

Ist sein Vorhaben realistisch?

Ungeachtet der aktuellen Diskussionen hat der konservative Bundesstaat Oklahoma bereits Ernst gemacht: Der Gouverneur Kevin Stitt unterzeichnete am Dienstag den sogenannten «Heartbeat Act». Dieses Gesetz verbietet Schwangerschaftsabbrüche, sobald ein Arzt bei einem Embryo oder Fötus den Herzschlag feststellen kann. Zudem ermöglicht es Zivilklagen gegen Personen, die Abtreibungen vornehmen oder Frauen dabei wissentlich unterstützen.

Das Vorgehen Oklahomas zeigt eindrücklich, dass Alito und der Supreme Court Rückhalt geniessen. Tatsächlich sind sechs der neun Richter Republikaner und gehören somit traditionell dem konservativen Flügel an. Die nötige Stimmenmehrheit wäre also gegeben. Der Vorsitzende des Gerichts, «Chief Justice» John Roberts, gilt diesbezüglich allerdings als unberechenbar: Obwohl selbst Republikaner, hat er sich in der Vergangenheit nicht gescheut, gegen Anträge von Donald Trump und anderen Parteikollegen zu stimmen.

Roberts betonte am Dienstag denn auch, dass das von «Politico» geleakte Dokument bloss ein erster Entwurf sei. Bis zur definitiven Entscheidung im Juni kann also noch einiges abgeändert werden.

Welche Möglichkeiten würden betroffenen Frauen bleiben?

Ein positiver Entscheid des Supreme Courts würde in vielerlei Hinsicht eine Kettenreaktion auslösen, denn ein Abtreibungsverbot heisst nicht gleich, dass nicht mehr abgetrieben wird. Frauen, die in betroffenen Bundesstaaten wohnen, würden wohl vermehrt in angrenzende Staaten reisen, die Schwangerschaftsabbrüche weiterhin erlauben. Diese Praxis ist schon heute gang und gäbe, weswegen in den Grenzregionen von zwei benachbarten, aber unterschiedlich ausgerichteten Bundesstaaten in den letzten Jahren viele Abtreibungskliniken gebaut wurden.

Die Reisekosten dorthin sind teils recht hoch – hier kommen gemeinnützige Verbände und Stiftungen ins Spiel, die Frauen dabei finanziell unterstützen. Kippt der Supreme Court «Roe v. Wade» tatsächlich, werden die Spendengelder wohl um ein Vielfaches zunehmen.

Wie reagiert das Volk auf das «Politico»-Leak?

Das Thema Abtreibung erhitzt die Gemüter in den USA seit Jahrzehnten, die Spaltung der Gesellschaft wird auch in dieser Hinsicht augenscheinlich. Entsprechend fielen die Reaktionen am Montagabend heftig aus. Tausende Menschen gingen auf die Strassen, um zu demonstrieren. Auch vor dem Weissen Haus und dem obersten Gerichtshof in Washington D.C. entstanden Ansammlungen, genauso wie in Oklahoma City. Diverse Bürgerrechtler und Aktivisten hielten in mehreren US-Städten Kundgebungen ab, wie folgendes Video zeigt:

Quelle: CH Media Video Unit / Katja Jeggli

Viele Abtreibungsgegner sind hingegen in erster Linie unerfreut darüber, dass «Politico» den Gesetzesentwurf geleakt hat. Welche anonyme Quelle dahinter steckt, ist unklar – «Chief Justice» Roberts kündigte jedoch an, interne Untersuchungen einzuleiten. Denn Einsicht in solche «gemeinen» Dokumente haben in der Regel nur die neun Richter und deren engste Mitarbeitenden.

Wie hat sich der US-Präsident geäussert?

Joe Biden, Demokrat und selbst gläubiger Katholik, bezeichnete das Recht einer Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch als «fundamental». Die Wählerinnen und Wähler sollten bei den Senatswahlen im November Kandidaten unterstützen, die ein liberales Recht auf Abtreibungen befürworten.

Der Präsident hat erkannt, wie politisch geladen die Abtreibungsdiskussion in den USA ist. Tatsächlich ist in rund 20 Bundesstaaten, anders als in Oklahoma, derzeit unklar, wie ihre Gesetzeslage nach einem positiven Entscheid des obersten Gerichtshofs aussehen würde. Demokraten und Republikaner werden dies in Hinblick auf die Senatswahlen natürlich ausschlachten – Abtreibung wird ein zentrales Thema im Wahlkampf sein.

Bleibt es «bloss» bei der Abtreibung?

Die Wahlkampf-Diskussionen werden sich auch darum drehen, inwiefern der Supreme Court in Zukunft die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger beschneiden kann und darf. Gelingt es ihm, Abtreibungen zu verbieten, so würde ein gefährlicher Präzedenzfall für andere Bürgerrechtsfragen wie etwa die Ehe für Homosexuelle oder das Praktizieren von Religionen geschaffen.

Ein derartiger Machtgewinn des obersten Gerichtshofs entspricht aber keinerlei der Gewaltenteilung im politischen System der USA. Das Land würde gut daran tun, die politische Unabhängigkeit und Unparteilichkeit seines Supreme Courts unbedingt zu wahren.

veröffentlicht: 4. Mai 2022 13:09
aktualisiert: 4. Mai 2022 13:09
Quelle: Today-Zentralredaktion

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