Koronavilkku statt SwissCovid

Was die Finnen richtig machen in der Corona-Krise

· Online seit 20.11.2020, 12:22 Uhr
Lange stand Schweden mit seinem «Sonderweg» im Mittelpunkt des Interesses. Doch das eigentliche Vorzeigeland in Sachen Corona-Bekämpfung liegt gleich daneben. Die Finnen zeigen Europa, wie es richtig geht.
Daniel Schurter
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Das «Wall Street Journal» (WSJ) hat am Mittwoch einen vielbeachteten Artikel seines Deutschland-Korrespondenten Bojan Pancevski publiziert. Die Überschrift lautet:

In diesem Artikel konzentrieren wir uns mehrheitlich auf die Finnen. Denn sie sind die «heimliche» Vorzeigenation in Sachen Pandemiebekämpfung, wie die Infektionszahlen belegen. Dazu weiter unten mehr.

Das ist ein abgewandeltes Zitat aus der Donnerstag-Ausgabe der österreichischen Tageszeitung «Der Standard». Im östlichen Nachbarland der Schweiz gelten seit Dienstag rigorose Ausgangsbeschränkungen, nachdem den Spitälern wegen der Corona-Patienten die Überlastung drohte.

Derweil herrscht in Helsinki Alltag. «Das Leben ist hier viel näher an der Normalität als in den meisten Ländern», zitiert das WSJ eine Theaterregisseurin. Am Samstag habe sie ihr eigenes Stück aufgeführt. Vor reduziertem Publikum natürlich. Nach der Aufführung besuchten sie und ihre Kollegen ein italienisches Restaurant, während in einer nahe gelegenen Bar ein Rockkonzert stattfand – eine Szene, die in den meisten europäischen Ländern inzwischen unvorstellbar sei.

Dieser Beitrag geht der Frage nach, warum die Finnen das Coronavirus im Griff haben – und nicht umgekehrt. Eine Vorwarnung: Wie schon in der ganzen Corona-Krise gilt, dass wir durch stetiges Beobachten dazulernen. SARS-CoV-2 und die durch das Virus ausgelöste Krankheit Covid-19 sind äusserst unberechenbar. Was heute gilt, kann morgen durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse infrage gestellt sein.

Also schauen wir neugierig in den hohen Norden und finden heraus, was die Finnen anders machen.

1. Starke Frau

Die 35-jährige Sozialdemokratin ist die jüngste Ministerpräsidentin in der Geschichte Finnlands und sie war zum Zeitpunkt ihres Amtseintritts (kurz vor der Corona-Krise) zwischenzeitlich die jüngste Regierungschefin weltweit.

Sanna Marin sagt, die Ausbreitung des Virus schnell unter Kontrolle zu bekommen, sei nicht nur aus gesundheitlicher, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht unerlässlich.

Schon bei der Bewältigung der ersten Welle zeigte sich, dass Finnlands Regierung weniger auf einflüsternde Wirtschaftslobbyisten hört und dafür mehr auf die Epidemiologen. Zu den konkreten Massnahmen folgt weiter unten mehr.

Finnland und Norwegen zeichnen sich in der Krise auch dadurch aus, dass sie einen breiten politischen Konsens über ihre Pandemiepläne geschmiedet haben, hält Bojan Pancevski in seinem Bericht fürs «Wall Street Journal» fest.

Die von der Regierung verhängten Massnahmen hätten sich im Laufe der Zeit kaum verändert: Dadurch konnte das Durcheinander von sich ständig ändernden Regeln, wie im übrigen Europa, vermieden werden. Bevölkerungsumfragen zeigten, dass Sanna Marin und die ganze finnische Regierung eine breite öffentliche Unterstützung geniessen.

Halten wir fest:

Die junge Regierungschefin hat daran einen grossen Anteil, sie gilt als hervorragende Kommunikatorin.

2. Krisenvorbereitung statt Selbstgefälligkeit

Ach, was fühlten wir Schweizer uns gut. Im Mai.

Die Gefahr schien gebannt. Der Gesundheitsminister übte sich im öffentlichen Bauchpinseln der Bevölkerung.

Es folgte ein sorgloser Sommer.

Derweil bereitete man sich in Finnland auf das vor, was nach der ersten Welle kommen würde.

Finnische Universitäten schulten in Zusammenarbeit mit den Behörden Tausende von Freiwilligen online im Contact-Tracing. Und die App-Lancierung wurde vorbereitet.

3. Die Corona-Warn-App wird rege genutzt

Finnland ist das Land in Europa, in dem die offizielle Corona-Warn-App («Koronavilkku») auf eine unerreicht grosse Akzeptanz gestossen ist in der eigenen Bevölkerung.

Dabei hatten die Finnen den Start verschlafen. Die App war erst im September bereit. Oder war dies (im Nachhinein betrachtet) ein perfektes Timing, weil sich der Sommer dem Ende zuneigte und der Winter näher rückte?

Fakt ist: Innerhalb nur einer Woche nach der Lancierung lud ein Drittel der Finnen die App aufs Handy.

Über 2,5 Millionen der 5,5 Millionen Einwohner haben die Corona-App inzwischen installiert. (Wobei das finnische Gesundheitsministerium nur diese Zahl kommuniziert und auf der Website nicht verrät, wie viele aktive User es gibt.)

Der aus Schweizer Sicht bittere Vergleich: Die SwissCovid-App hat zurzeit 1,81 Millionen aktive User. Bei einer Gesamtbevölkerungszahl von gut 8,5 Millionen Menschen.

Wohlgemerkt: Koronavilkku und SwissCovid basieren beide auf den Schnittstellen, die Apple und Google für neuere iPhones und Android-Smartphones zur Verfügung stellen. Beide erfüllen die höchsten Datenschutz-Standards.

4. Keine Macht den Covidioten

Hast du schon von finnischen «Corona-Rebellen» gehört, die sich an maskenlosen Protesten Scharmützel mit der Polizei liefern? Ich auch nicht. Im Mai gab es eine kleine unbewilligte Demonstration vor dem Parlament. Die Polizei schritt ein und schickte ein paar Dutzend Protestierende nach Hause.

Eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums brachte die konsequente Haltung der Finnen auf den Punkt:

Tatsächlich soll sich die grosse Mehrheit der Bevölkerung an die von der Regierung verfügten Massnahmen halten. Die Vorschriften würden von über 80 Prozent der Menschen eingehalten.

5. Massiv verschärfte Grenzkontrollen

Seit September werden in Helsinki vier Corona-Spürhunde ausgebildet, um das Virus aus den Proben der ankommenden Passagiere am Flughafen zu erschnüffeln.

Das ist die sympathische Seite der verschärften Grenzkontrollen. Finnland hatte bei der ersten Welle im Frühjahr einen harten zweimonatigen Lockdown durchgemacht. Reisen in und aus der Hauptstadt Helsinki waren verboten.

Das frühzeitige Aussetzen von internationalen Flügen und die Aufforderung an die Bevölkerung, nicht ins Ausland zu reisen, sei die Grundlage für den Erfolg Finnlands, meint der finnische Gesundheitsminister. Gerade so wichtig, oder vielleicht noch wichtiger, ist nun der Kampf gegen Superspreader.

6. Der Kampf gegen Superspreader

Finnland und Norwegen verfolgen die gleiche Strategie zur Seuchenbekämpfung, hält das «Wall Street Journal» fest:

strenge Grenzkontrollen, obligatorische Quarantäne und Contact-Tracing, das sich auf das Eindämmen von Superspreader-Events konzentriert.

Wie wir wissen, kann jeder, der sich unbemerkt mit dem neuen Coronavirus ansteckt, zum Superspreader werden und daraufhin ungewollt viele weitere Personen infizieren.

Die Gesundheitsbehörden in Norwegen und Finnland sind offenbar in der Lage, den Ursprung der meisten neuen Coronavirus-Fälle zurückzuverfolgen. Ein effizientes Test-System und die konsequente Nachverfolgung von Ansteckungsketten helfen, die Infektionszahlen tief zu halten.

Sicherlich profitiert das Land von der geringen Bevölkerungsdichte, einer hochentwickelten digitalen Infrastruktur und einem leistungsfähigen Gesundheitssystemen.

7. Die Finnen denken weiter

Das vorläufig letzte Wort soll Finnlands junge Regierungschefin haben. Sanna Marin will nicht auf den jüngsten Erfolgen ihres Landes ausruhen, sondern strebt eine europaweite gemeinsame Bekämpfung von Covid-19 an.

Sanna Marin weiss, dass sich auch die Lage zuhause innert Wochen dramatisch verändern kann. Es braucht wenige Corona-Cluster, um die Situation eskalieren zu lassen.

PS: Die Zahl und Häufigkeit neuer Covid-19-Fälle nehme zu, warnte das finnische Gesundheitsministerium am Donnerstag.

Quellen: ft.com: Finland’s PM warns populists will prosper if Covid is not controlled

wsj.com: Finland and Norway Avoid Covid-19 Lockdowns but Keep the Virus At Bay

veröffentlicht: 20. November 2020 12:22
aktualisiert: 20. November 2020 12:22
Quelle: CH Media

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