Obdachlos

«Am Morgen brauche ich als erstes Heroin» – Ein Luzerner erzählt vom Leben auf der Strasse

06.06.2022, 06:42 Uhr
· Online seit 06.06.2022, 06:33 Uhr
«Hättest du mir ein bisschen Münz für die Notschlafstelle?» Diesen Satz hört man auch in der Schweiz – und auch in Luzern gibt es Menschen ohne Zuhause. Ein Betroffener spricht über Drogen, Diebstähle und seinen Tagesablauf auf der Strasse.

Quelle: PilatusToday / Andreas Wolf

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«Eigentlich habe ich grad keine Zeit.» Ich habe mit vielen Antworten gerechnet, als ich mich auf die Suche eines obdachlosen Interviewpartners gemacht habe, nicht aber mit dieser. Dass es keine schlechte Ausrede, sondern bitterer Ernst ist, zeigt sich schnell an der Ehrlichkeit des Befragten: «Ich muss noch Stoff verkaufen, um meinen Konsum zu finanzieren.» Schlussendlich kann ich ihn aber davon überzeugen, mir seine Geschichte zu erzählen.

«Vor gut einem Monat bin ich aus dem Gefängnis rausgekommen», erklärt mir der Mann, der Sven genannt werden möchte. Wohin er nach seiner Zeit in der Zelle soll, weiss er nicht. Er landet auf der Strasse und im gleichen Atemzug auch wieder in den Drogen. «Morgens brauche ich als erstes Heroin, damit es mir gut geht.»

Vom Konsum getrieben

Angefangen hat Svens Drogenkonsum mit 15 Jahren, damals noch mit Joints. Es folgten regelmässige Partys. Mit 25 bietet ihm jemand Heroin an, Sven raucht, konsumiert ein paar Tage am Stück und wacht eines morgens süchtig auf. «Du bist jeden Tag davon getrieben, den Scheiss zu konsumieren, um zur Ruhe zu kommen.»

Gratis ist Svens Konsum nicht, er braucht zwischen 150 und 200 Franken pro Tag für Heroin. Geld, das Sven eigentlich nicht hat. «Betteln kann ich nicht. Das kostet mich zu viel Überwindung. Ich habe meine eigenen Wege, um an Geld zu kommen. Dinge, die man eigentlich nicht tun sollte.» Sven lacht verlegen. Er stiehlt und dealt.

«Ich mache das nicht, weil es mir Spass macht, sondern weil ich es machen MUSS.» Ich frage ihn, ob er bereut, was er macht. Sven verneint. «Ich tue keiner alten Oma etwas zuleide. Ich gehe in Läden, die im Jahr Millionenumsätze machen.» Auch das Dealen bereut er nicht. «Ich zwinge niemanden zum Konsum. Wer es nicht bei mir kauft, kauft es zwei Schritte weiter.»

Abschalten? Geht nicht

In Luzern gibt es die Notschlafstelle, wo Menschen ohne Obdach für zehn Franken duschen, übernachten und etwas essen können. Sven geht nicht gerne dort hin. «Du hast ständig Angst, dass jemand dein Zeug klaut. Man ist zu viert im Zimmer, zwei konsumieren, schlafen kann man nicht.» Er hat deshalb lieber seine Ruhe, irgendwo draussen. Wo genau Sven seine Nächte verbringt, möchte er nicht sagen.

Kontakt zur Familie hat Sven keinen. Schon seit er 18 Jahre ist. Ein Bett im Elternhaus ist für ihn also kein Thema. «Der Mensch gewöhnt sich an alles.» Kein Satz, den ich erwartet hätte. «Man findet sich zurecht.» Es sei aber natürlich nicht das Gleiche, wie in einer eigenen Wohnung zu leben. Richtig zur Ruhe kommt Sven nicht. «Man ist immer irgendwie auf Trab. Es schlaucht einen recht.»

Langsam wird es dunkler, die Uhrzeit zeigt gegen halb 10 abends. Das Gespräch mit Sven neigt sich dem Ende zu, er muss langsam los. «Irgendwann gehen auch die Dealer nach Hause. Ich brauche noch Stoff.» Ich gebe ihm die Möglichkeit, einen Appell an die Gesellschaft zu richten. «Wir sind nicht alles Unmenschen oder weiss der Teufel was. Wir haben einfach eine andere Lebenssituation und müssen damit klarkommen.»

veröffentlicht: 6. Juni 2022 06:33
aktualisiert: 6. Juni 2022 06:42
Quelle: PilatusToday

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