Obdachlosen-Serie – Teil 1

Das Leben auf der Strasse

· Online seit 24.12.2022, 14:34 Uhr
Kein warmes Bett und keine vier Wände, die vor Wind und Wetter schützen: Obdachlosigkeit ist auch in der Zentralschweiz bitterer Ernst. Und das Leben auf der Strasse ist nicht ungefährlich. Aber haben die Betroffenen eine Wahl?
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Pfeifender Wind wirbelt Schneeflocken zur Erde. Ächzend schlägt ein älterer Herr den Kragen seines Mantels hoch, um sich gegen die beissende Kälte zu schützen. «Schnell zurück in die warme Stube», denkt er sich. Der Weg von der Bushaltestelle in seine Wohnung ist nicht weit, trotzdem kann er seine Fingerspitzen kaum noch spüren. Sein Blick fällt auf eine zusammengekauerte Gestalt, die gegen die Fassade des mehrstöckigen Wohnhauses lehnt. Die junge Frau hat eine leichte Decke um sich geschlungen. Ihr Gesicht ist rot von der Kälte. Der Mann senkt den Kopf, schaut weg – und geht einfach weiter.

Beachtung schenken

Was wie der Anfang einer Geschichte klingt, ist für manche Menschen bitterer Ernst. Armut, Drogenkonsum, Obdachlosigkeit – wegzuschauen ist peinlich leicht. Und dabei ist es gerade das, was den Obdachlosen die Menschlichkeit nimmt. «Wegschauen ist sehr demütigend und kratzt am Selbstwertgefühl», erklärt Olivia Allemann von der Gassenarbeit Luzern.

Sie wünscht sich, dass einander mit mehr Respekt begegnet wird. Vor allem auch dann, wenn gebettelt wird. «Es braucht Mut, überhaupt jemanden anzusprechen», weiss Allemann. Das Mindeste, das man tun könne, sei den Bettlern mit Freundlichkeit zu begegnen.

Die Gefahren der Kälte

Obdachlose haben aber mit weit mehr zu kämpfen als nur mit der Beschaffung von Geld. Denn das Leben auf der Strasse bietet noch ganz andere Herausforderungen: physisch und psychisch. Wind und Wetter stellen die Obdachlosen vor Herausforderungen. Vor allem jetzt im Winter, wo die Nächte länger sind und die Temperaturen in den Minusbereich fallen. «Die Kälte ist stark gesundheitsgefährdend. Man wird leicht krank draussen und erholt sich langsamer davon.»

Es fehlen Möglichkeiten, sich richtig zu erholen. Erst recht, wenn die Nacht draussen verbracht werden muss. «Die Grundbedürfnisse sind sehr eingeschränkt. Sanitäre Anlagen sind nur beschränkt zugänglich, die Leute ernähren sich nicht richtig und vor allem gibt es keine Möglichkeiten, sich zurückziehen zu können», erklärt Olivia Allemann.

Auf sich allein gestellt

Und damit fehlt ein Ort, an dem man ganz und gar sich selber sein kann. Ein Ort, an dem man sich nicht beobachtet fühlt und nicht dem öffentlichen Raum ausgesetzt ist. Und auch der Sozialfaktor fehle: Man kann niemanden zu sich nach Hause einladen. Gleichzeitig tauchen Vertrauensprobleme auf, wie Olivia Allemann erzählt. Aus Angst, ihr weniges Hab und Gut auch noch zu verlieren, werden die Schlafplätze draussen geheim gehalten.

Die Angst vor Diebstahl sei auch der Grund, weshalb manche Menschen es vorziehen, draussen zu schlafen anstatt in einer Notschlafstelle. «Das sind alles Menschen in Notlagen, die aufeinandertreffen. Wenn die Not des einen grösser ist als die des anderen, kann Diebstahl schon mal vorkommen.»

Obdachlosigkeit – eine Wahl?

Und trotzdem hält sich eine Behauptung hartnäckig: Die Obdachlosen haben sich für die Obdachlosigkeit entschieden. «Dies trifft nur auf die Allerwenigsten zu», stellt Allemann klar. Es seien strukturelle Faktoren, die die Obdachlosigkeit begünstigen. Denn: Wer in der Schweiz eine Wohnung mieten will, muss oft einen Betreibungsregisterauszug vorlegen.

«Wer darin einen Eintrag hat, wird automatisch benachteiligt.» Deswegen sei es oft schwierig, an eine neue Wohnung zu kommen. Erschwert werde die Wohnungssuche auch bei Armut. «Die Person mit dem grossen Einkommen wird auf jeden Fall bevorzugt.»

Ist Obdachlosigkeit also eine Wahl? «Nein», sagt Olivia Allemann, «in den meisten Fällen nicht.» Viel eher gerieten die Betroffenen in einen Teufelskreis, aus dem nur schwer wieder ausgebrochen werden könne.

veröffentlicht: 24. Dezember 2022 14:34
aktualisiert: 24. Dezember 2022 14:34
Quelle: PilatusToday

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