Darf ich Bekannten verbieten, mein Kind zu umarmen? Wie erkläre ich meinem Kind die wechselnden Corona-Massnahmen? Mit der Corona-Pandemie sind Eltern plötzlich neuen, nie dagewesenen Fragen ausgesetzt, für die sie persönlich den besten Umgang finden müssen.
Belastungen haben zugenommen
In Bezug auf die Erziehung hat sich durch die Coronapandemie vor allem etwas verändert: «Die Belastungen auf verschiedenen Ebenen sind gestiegen», sagt Cordula Haselbacher, Leiterin der Mütter- und Väterberatung Region Luzern. Einerseits durch die Isolation der Familie, durch den verminderten Kontakt mit Bekannten, durch die Angst vor einer Ansteckung oder den Verlust der Arbeit, Geldsorgen oder teilweise durch die unterschiedliche Haltung bezüglich der Massnahmen oder Gefährlichkeit des Virus. «Das kann zu Konflikten in Paarbeziehungen führen.»
Anja Meinetsberger, Leiterin der Jugend- und Familienberatung Contact Stadt Luzern, ergänzt: «Die Eltern sind durch all diese Dinge verunsichert und darin sehe ich die Herausforderung. Nicht die Erziehung hat sich verändert, sondern die Unsicherheit der Eltern wirkt sich auf die Erziehung aus.» Stabilität gebe den Kindern Orientierung, einen Rahmen. «Wenn sich Eltern selbst verunsichert fühlen, strahlen sie weniger Sicherheit aus. Die Kinder spüren das. Für sie sind Eltern verlässliche Bezugspersonen.» Eltern, die Sicherheit ausstrahlen, kämen besser durch die Corona-Pandemie.
«Was braucht mein Kind?»
Sollen die Eltern demnach ihre Unsicherheit überspielen? «Nein», sagt Meinetsberger. «Kinder spüren, wenn Eltern etwas überspielen wollen. Eltern können bewusst sagen, dass sie sich unsicher sind, die Frage gerade nicht beantworten können, es sich aber überlegen und dann im Alltag weitermachen.»
Meinetsberger nennt ein Beispiel: Am Anfang der Pandemie seien viele Eltern verunsichert gewesen, wie sie mit einem zweijährigen Kind eine Isolation bewerkstelligen sollen. «In diesem Fall haben wir von der Beratung folgende Frage gestellt: Was braucht ihr zweijähriges Kind?» Die Eltern hätten dann schnell gemerkt, dass ein Zweijähriges nicht einfach auf sich allein gestellt in Isolation gehen kann. «Am besten fragt man sich immer, was braucht mein Kind? So lässt sich meist eine gute Lösung finden.»
Es helfe, möglichst ehrlich zu sein. Gerade in Bezug auf die ändernden Corona-Massnahmen: «Kinder verstehen auch, dass sie, wenn es regnet, Gummistiefel anziehen sollen, obwohl sie gestern noch Sandalen tragen konnten. Sie nehmen Veränderungen wahr und brauchen Führung durch die Eltern, um nicht selbst ständig Entscheidungen treffen zu müssen.» Wenn Eltern sagen, dass es viele Dinge gibt, die man noch nicht weiss oder eben neu weiss und sich deshalb ständig Dinge ändern, sei das für viele Kinder nachvollziehbar. «Hilfreich ist es, wenn die Erwachsenen den Kindern klar sagen, was heute von ihnen erwartet wird und die Kinder gleichzeitig ihre Sorgen oder Ängste ansprechen dürfen.» Eltern sind wichtige Vorbilder, denn Kinder lernen viel durch Nachahmung.
Eltern entscheiden, wer dem Kind nahekommt
Schwierig werde es, wenn in Familien die Eltern oder Familienangehörigen verschiedene Meinungen vertreten. Dadurch sei ein Kind hin und hergerissen. Auch wenn in der Familie eine andere Haltung gegenüber den Massnahmen herrscht als in der Schule. Wenn Eltern Regeln der Schule kritisieren, dann werde es für Kinder anstrengend.
Was soll ich tun, wenn ich nicht will, dass Verwandte oder Bekannte das eigene Kind umarmen? Darauf hat Cordula Haselbacher eine Antwort: «Es ist grundsätzlich das Recht der Eltern zu entscheiden, wer dem Kind in welcher Form nahekommt. Das Kind hat ein Selbstbestimmungsrecht, auch Kleinkinder. Möchte ein Kind nicht geküsst werden, gilt es dies zu respektieren, unabhängig der Pandemie. Eltern sind dazu aufgefordert, die Bedürfnisse ihrer Kinder lesen zu lernen und gegenüber anderen zu vertreten.» Vermittelt werde das den Verwandten am besten durch Ehrlichkeit. Indem den Bekannten gesagt wird, welchen Umgang, welche Distanz, sich der Elternteil für sein Kind wünscht.
«Kinder müssen raus – da dürfen Eltern kreativ sein»
Doch wie erklärt eine Mutter, ein Vater einem Kind, dass es das Grosi nicht umarmen darf, weil sie eine Risikopatientin ist?
«Es braucht eine gute Begleitung», sagt Anja Meinetsberger. «Ein zweijähriges Kind versteht keine langen Erklärungen. Die Eltern müssen in solchen Fällen gute Treffen ermöglichen, indem sie beispielsweise auf einen Besuch verzichten und stattdessen telefonieren oder sich über den Zaun hinweg unterhalten.» Die Eltern müssten in diesem Fall die Führung übernehmen und das Alter des Kindes berücksichtigen.
Ganz grundsätzlich raten die Expertinnen, dass Eltern und Familien sich bewusst sind, dass die Kinder der Pandemie sehr stark ausgesetzt sind. «Obwohl sie am wenigsten gefährdet sind, sind sie sehr stark von den Massnahmen betroffen. Manchmal sind Kinder vier Wochen in Quarantäne, weil sich ein Familienmitglied nach dem anderen ansteckt», sagt Meinetsberger. Das könne Wochen dauern und ein Kind könne nicht vier Wochen nicht rausgehen. «Die Eltern sollen zu Randzeiten spazieren gehen. Natürlich nicht auf Spielplätze, aber an die frische Luft. Da dürfen Eltern schon kreativ sein, ohne andere Menschen zu gefährden.»
Auch die Zeit nach der Quarantäne sei wichtig und nicht einfach: «Kinder gewöhnen sich manchmal an das Nichtstun – an das Gamen, den Medienkonsum. Das wieder abzugewöhnen ist nicht einfach und braucht Zeit und gibt vermutlich einigen Streit. Das müssen die Eltern aushalten.»