Vogelwarte Sempach

«Wenn die Vögel gestresst sind, sind unsere Daten unbrauchbar»

25.09.2021, 10:41 Uhr
· Online seit 25.09.2021, 10:18 Uhr
Die Schweizerische Vogelwarte Sempach ist beim Bund unter Organisationen aufgeführt, die Personen für Tierversuche an Vögeln ausbilden. Michael Schaad ist Biologe und arbeitet an der Vogelwarte, forschte selbst an Vögeln und bildete Personen aus. Wir haben Fragen.
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Sie distanzieren sich klar vom Begriff Tierversuch. Wieso?

In unserer Beringerausbildung bringen wir Ornithologinnen und Ornithologen das Beringen und Vermessen von Vögeln bei. Das heisst, dass wir ihnen zeigen, wie man wildlebenden Vögeln einen Ring anbringt, seine Art, das Alter und das Geschlecht bestimmt und dass man ihn danach unverzüglich wieder freilässt. Weil das Geschlecht nicht bei jedem Vogel optisch sichtbar ist, nehmen wir den Vögeln in unseren eigenen Studien manchmal Blut ab. Glücklicherweise haben Vögel eine extrem schnelle Wundheilung. Gesetzlich gesehen, wird Beringung als Tierversuch eingestuft. Allerdings ist der Begriff sehr negativ geprägt. Wir quälen keine Vögel und versuchen, sie so wenig Stress wie möglich auszusetzen. Denn: Wir wollen das Verhalten von wildlebenden Vögeln erforschen. Gestresste Vögel verhalten sich nicht natürlich, daher wären die Daten unbrauchbar.

Wie sieht diese Ausbildung aus?

Die Ausbildung beinhaltet 20 Stunden Theorie und sechs bis 28 Tage Praxis. In der Theorie werden rechtliche und ethische Richtlinien vermittelt. In der Praxis zeigen wir den Kandidatinnen und Kandidaten, wie man Vögel mit grossen Netzen fängt oder wie man bei Jungvögeln im Nest die Ringe an den Beinen anbringt. Wichtig ist, dass sie danach sofort wieder freigelassen werden. Manchmal gibt man den Vögeln vorher auch noch einen Moment Zeit, sich an einem ruhigen Ort zu erholen. Grundsätzlich steht die Unversehrtheit der Vögel an oberster Stelle. Ziel ist es, möglichst schnell und ruhig zu arbeiten. Eine Beringung dauert etwa fünf Sekunden. Eine Beringung mit Vermessen und Wägen etwa eine halbe Minute.

Was ist das Ziel dieser Ausbildung?

Nach der Ausbildung kann man beim Bund ein Gesuch stellen für eine Bewilligung für die wissenschaftliche Arbeit mit Vögeln. Das oberste Ziel muss sein, dass die Vögel bei dieser Arbeit möglichst nicht gestresst werden und unversehrt in die Natur zurückgelassen werden. Die Beringung ist eine 100 Jahre alte und sehr etablierte Methode, um Vögel zu erforschen. Natürlich gibt es noch weitere Methoden, etwa Geolokatoren oder Sender, die auf dem Rücken der Vögel platziert werden können. Allerdings dürfen die Vorrichtungen die Vögel nicht stören, damit die Daten nicht verfälscht werden.

Wie wird mit den Vögeln gearbeitet?

Der Ring gibt dem Vogel eine Persönlichkeit. Dank ihm erkennen wir beispielsweise, ob es immer der gleiche Storch ist, der an einem Ort nistet. Seit der Beringung wissen wir beispielsweise, dass Störche treu sind und immer wieder an den gleichen Ort zum Brüten zurückkehren. Durch die Ringe können wir die grossen Zusammenhänge erkennen. Wir wissen, wo die Vögel den Winter verbringen, wo sie brüten und auch wo sie sterben. Bleiben wir beim Beispiel Storch: Viele tote Störche wurden in der Nähe von Freileitungen gefunden. So wissen wir, dass diese gefährlich sind und können mit den Betreibern Kontakt aufnehmen, um sie für Störche sichtbarer und sicherer zu machen.

Was ist beim Umgang mit Vögeln besonders wichtig?

Man muss sich sehr ruhig bewegen. Vögel beobachten ihr Umfeld sehr genau und sind sehr schnell beunruhigt. Deshalb sollte man keine ruckartigen Bewegungen machen. Wenn sie gestresst sind oder ihnen geschadet wird, sind die gesammelten Daten wertlos, weil sie sich nicht natürlich verhalten. Und wir wollen eben wissen, wie sich die Tiere in der Natur verhalten.

Wie viele Tiere wurden schon untersucht?

Jährlich werden in der Schweiz zwischen 50'000 und 100'000 Vögel beringt. Jeder Ring wird nur einmal von einem Vogel getragen, es gab und gibt keine Nummer doppelt.

Wie viele Personen wurden bereits bei Ihnen ausgebildet?

Aktuell gibt es etwa 250 aktive Beringerinnen und Beringer. Pro Jahr melden sich etwa 30 bis 40 Personen, die bei uns die Ausbildung machen möchten. Es sind meistens Vogelbegeisterte, die in ihrer Freizeit beim Beringen mithelfen wollen. Andere kommen von Universitäten, sie wollen zu den Vögeln forschen.

Welche Erkenntnisse hat die Forschung der Vogelwarte an den Vögeln erbracht?

Dank der Beringung können wir einzelne Vogelindividuen unterscheiden und wissen, welche Vögel wie viele Nachkommen haben. Man sieht auch, wie hoch das Überleben von Alt- und Jungvögeln ist oder wie oft beispielsweise ein Storch an den gleichen Ort zurückkommt. Mit Hilfe der Beringung und insbesondere Geolokatoren und Sender konnten wir auch das Zugverhalten der Vögel erforschen und herausfinden, wo sie überwintern.

Gibt es dazu ein konkretes Beispiel, von dem Sie uns erzählen können?

Natürlich. Nehmen wir den Alpensegler. Das sind die Vögel, die beim Wasserturm brüten und oft rasend schnell und rufend um ihn herumfliegen. Wir haben Alpenseglern Geolokatoren angelegt, welche die Lichtintensität messen. Dadurch kannten wir die Tageslänge am Aufenthaltsort der Vögel und konnten darauf schliessen, wo sie den Winter verbrachten. Und wir haben ebenfalls herausgefunden, dass sie 200 Tage in der Luft bleiben können, ohne auch nur einmal zu landen. Dabei verhungern sie nicht, weil sie in der Luft Insekten fressen.

Fliesst auch etwas Wissen in die Humanmedizin?

Mit der Humanmedizin sind wir bis jetzt nur einmal in Berührung gekommen: Bei der Vogelgrippe. Mittlerweile weiss man aber, dass die Vogelgrippe zwar unter den wildlebenden Vögeln zirkuliert, dass das Virus aber meist mit Geflügeltransporten mitreist. Ansonsten haben wir kaum Berührungspunkte mit der Humanmedizin. Wir beobachten und erforschen ausschliesslich die wildlebenden Vögel.

veröffentlicht: 25. September 2021 10:18
aktualisiert: 25. September 2021 10:41
Quelle: PilatusToday

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