Menschenschmuggel

«Leute haben keine andere Möglichkeit, als in den LKW zu steigen»

07.09.2022, 14:01 Uhr
· Online seit 07.09.2022, 11:57 Uhr
Am Montag machte die Kantonspolizei Nidwalden einen erschütternden Fund: 23 Männer auf engem Raum zusammengepfercht in einem Lieferwagen. Eine Situation, die der aus Afghanistan geflüchtete Reza Hosseini auch gut kennt.
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Die Reise von Reza Hosseini beginnt im Iran und soll am Schluss gut zwei Jahre dauern. Sie ist geprägt von Illegalität, Verzweiflung und dem Wunsch nach Sicherheit.

Reza ist Afghane. Der Krieg in seinem Heimatland treibt ihn zur Flucht ins Nachbarland Iran. Hosseini ist Flüchtling im Iran. Einen Ausweis hat er nicht, er fühlt sich als Mensch zweiter oder gar dritter Klasse. «Man darf sich nicht frei bewegen, nicht arbeiten», sagt Hosseini. Er muss weg. Die Heimat ist keine Option. «Es war Krieg, dahin konnte ich nicht zurück.» Hosseini heuert einen Schlepper an. Er will Sicherheit.

Mit dem Gummibot nach Griechenland – 10 Mal

In einem Car wird er mit anderen Flüchtlingen dann vom Iran an die türkische Grenze gefahren. Dort geht es zu Fuss ins erste türkische Dorf und ab da mit dem Car in Richtung Metropole Istanbul. Hier muss Hosseini erst mal Geld verdienen. «Ich habe schwarz gearbeitet. Ich musste Geld auftreiben für einen weiteren Schlepper, der mich nach Europa bringt.» Doch wieso genau Europa? «Es ist die Sicherheit, die ist so wichtig», sagt der Afghane immer wieder.

Wie so viele Flüchtlinge geht es für Hosseini dann von der Türkei aus mit dem Gummiboot nach Griechenland. «Das war etwas vom Schlimmsten. Du hast noch keine Erfahrung, weisst nicht, was auf dich zukommt. Es ist wirklich gefährlich für den Menschen.» Doch der Fluchtversuch misslingt. Hosseini wird zurück in die Türkei gebracht. Immer wieder nimmt er die Reise nach Griechenland auf sich. Insgesamt zehn Mal.

Im Lastwagen mit 16 Personen eingepfercht

Hosseini entscheidet sich dann für den Landweg. In einem Lastwagen, eingepfercht mit 15, 16 weiteren Personen reist er nach Griechenland. Ähnlich wohl, wie es die 23 Männer gemacht haben müssen, die in Hergiswil entdeckt wurden. Doch weshalb flüchten oft Männer und keine Frauen oder Familien? «Ich wäre auch nicht mit meiner Mutter oder Schwester geflüchtet», erzählt Hosseini. «Wenn ich alleine bin, muss ich mich nur um mich selbst kümmern. Eine Flucht ist so schon gefährlich genug, da bist du froh, wenn du dich nicht auch noch um die Familie kümmern musst.»

Von Griechenland will Hosseini weiter nach Europa. «Es gibt verschiedene Arten für die weitere Route. Man kann fliegen, aber das ist teuer, weil man für einen gefälschten Pass bezahlen muss. Der LKW ist günstiger, darum habe ich mich dafür entschieden», sagt Hosseini. Im Lastwagen also geht die Reise weiter. Der LKW wird auf eine Fähre verschifft. An Essen oder Trinken ist nicht zu denken. Zwei Mal klappt Hosseini im LKW zusammen, wird ohnmächtig. «Ich würde nie wieder in den LKW steigen, aber die Leute haben keine andere Möglichkeit.» Als er dann in Italien ankommt, reist er mit dem Zug in die Schweiz, wo die Polizei ihn festnimmt.

400 bis 500 Fälle von mutmasslichem Menschenschmuggel jährlich

Wie oft Flüchtlinge durch die Schweizer Grenze nach Europa geschleust werden, ist nicht klar. Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit geht davon aus, dass es jährlich zwischen 400 und 500 Fälle von mutmasslichem Menschenschmuggel gibt. Barbara Müller ist Koordinatorin und Co-Geschäftsleiterin von «Hello Welcome». Das «Hello Welcome» bezeichnet sich als Begegnungsort für Geflüchtete, Migrant*innen und Einheimische.

Auch sie kann verstehen, dass Menschen den Weg in die Schweiz auf diese Weise suchen, denn: «Das Botschaftsasyl wurde in diesen Ländern abgeschafft. Schlepper sind für diese Menschen die einzige Möglichkeit, hierhin zu kommen. Nur Ukrainer haben mit dem Schutzstatus S freie Fahrt. Für andere Menschen gibt es keinen legalen Weg.» Weshalb Menschen flüchten? «Jeder Mensch hat einen ganz eigenen Grund, warum er oder sie das Land verlassen will. Es ist nicht an uns, das zu be- oder verurteilen.»

Reza Hosseinis Flucht ist nun gut 10 Jahre her – inzwischen arbeitet er für die Organisation «Hello Welcome». Die 23 Flüchtlinge, die in Hergiswil entdeckt wurden, kann er gut verstehen. Was mit ihnen passiert, ist unklar. Laut einer Stellungnahme vom Kanton Nidwalden haben neun Personen Asyl beantragt.

veröffentlicht: 7. September 2022 11:57
aktualisiert: 7. September 2022 14:01
Quelle: PilatusToday

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