Schweizer in Tel Aviv

«Ich lebe seit 25 Jahren in Israel, so etwas habe ich noch nie erlebt»

10.10.2023, 07:04 Uhr
· Online seit 09.10.2023, 15:36 Uhr
Ori Strassberg stammt ursprünglich aus Basel und lebt seit 25 Jahren in Israel. Dort arbeitet er als Reiseführer. Derzeit ist er in Tel Aviv, wo er hautnah miterlebt, wie der Krieg nach Israel zurückgekehrt ist. Im Interview erzählt er vom Erlebten.

Quelle: Schweizer Reiseleiter erlebt Raketeneinschläge in Israel hautnah mit / ZüriNews vom 9. Oktober 2023

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Sie sind derzeit in Tel Aviv. Wie ist die Stimmung?

Die Stimmung ist sehr dumpf. Alle Cafés, Restaurants und Geschäfte sind geschlossen, die Strassen leer. Mir persönlich geht es in Ordnung, aber die Stimmung ist nicht gut.

Wie nimmt man den Krieg in Tel Aviv wahr?

Am Samstag hatten wir hier einen Raketenalarm. Wir kriegen alles mit, auch was ausserhalb von Tel Aviv passiert. Junge Leute werden in die Armee gezogen, Reservisten wurden mobilisiert. Diese Menschen kommen teilweise auch aus Tel Aviv.

Israel mobilisiert wegen des Kriegs 300'000 Reservisten. Dies sei die grösste Mobilisierung in der israelischen Geschichte in so kurzer Zeit, hiess es von der Armee.

Dass so viele Leute eingezogen wurden, ist bezeichnend. In den letzten Monaten waren hier viele Menschen unzufrieden und sagten, dass sie den Reservedienst verweigern würden. Jetzt, wo es darauf ankommt, ziehen alle in den Reservedienst. Die Einheit des Volkes ist da, wenn es nötig ist.

Sie erwähnten vorhin die Raketenalarme. Was muss man machen, wenn dieser ertönt?

So schnell wie möglich in einen Schutzraum gehen. Man hat in Tel Aviv 90 Sekunden Zeit, um sich vor einer Rakete in Sicherheit zu bringen. Im Speckgürtel des Gazastreifens sind es 10 Sekunden. Wenn es keinen Schutzraum gibt, ist man im Zwischenstock des Treppenhauses am besten geschützt. Wenn man draussen ist, sollte man versuchen, Unterschlupf zu finden. Gelingt das nicht, muss man sich auf den Boden legen.

Was waren für dich die prägendsten Erlebnisse der vergangenen Tage?

Ich fuhr am Samstagabend mit Freunden und deren Kindern, die noch einen Flug buchen konnten, zum Flughafen. Der Flug wurde dann aber annulliert. Auf dem Rückweg ging ein Alarm los. Wir mussten aussteigen und uns vor Raketensplittern schützen.

Und dann der kollektive Unmut und Schock darüber, dass wir so überfallen wurden. Mindestens 700 Menschen wurden ermordet. Ich mache hier den Quervergleich: Das letzte Mal, dass 700 Juden an einem Tag ermordet wurden, war vermutlich während des Holocaust.

Was macht das mit einem, wenn man sieht, wie bewusst auf Zivilisten losgegangen wird?

Ich lebe seit 25 Jahren in Israel und habe so etwas noch nie erlebt. Wir fühlen uns immer sehr geschützt durch die Armee. Ich fühle mich auch weiterhin sehr geschützt durch die Armee. Trotzdem muss evaluiert werden, wieso es zu diesem Versagen kam.

Im Haus neben Ihnen ist eine Rakete eingeschlagen. Was hat das bei Ihnen ausgelöst?

Bei den Angriffen vor zweieinhalb Jahren nahm ich das noch relativ gelassen und beeilte mich bei Raketenalarmen nicht so. Meine Einstellung hierzu hat sich massiv verändert.

Sie arbeiten als Reiseleiter. Welche Konsequenzen hat der Konflikt für Ihre Arbeit?

Ich habe alle Reisen in den Norden in den nächsten Wochen abgesagt. Auch mit den Kunden die jetzt hier sind, reisen wir nicht. Aber wir reden viel miteinander und blödeln herum, auch um die Kinder etwas abzulenken.

Haben Sie die Ereignisse überrascht?

In Israel muss man immer damit rechnen, dass irgendetwas sein könnte. Das schreckt auch niemanden gross ab. Mit dem, was passiert ist, hat aber niemand gerechnet.

Wie einfach ist es derzeit, Israel zu verlassen?

Man kommt nicht gut weg. Der Flughafen ist offen, aber viele Airlines haben ihre Flüge eingestellt. Israelische Airlines fliegen noch, andere stornieren die Flüge schneller.

Haben Sie Kontakt oder wissen Sie von Menschen, die im Krieg kämpfen oder vermisst werden?

Der Neffe eines Busfahrers, mit dem ich zusammenarbeite, wird gesucht. Der Sohn eines anderen Busfahrers, mit dem ich ebenfalls zusammenarbeite, wurde eingezogen. Jeder kennt irgendjemanden, der betroffen ist.

Was können Schweizerinnen und Schweizer tun?

Es gibt zwei Sachen. Lasst uns machen, was wir militärisch machen müssen. Und denkt daran, dass es 150, 200 israelische Geiseln gibt in Gaza, die behandelt werden, als gebe es keine Genfer Konventionen. Wer in Europa Connections zu Organisationen wie dem Roten Kreuz hat, soll uns helfen an die Geiseln zu kommen.

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veröffentlicht: 9. Oktober 2023 15:36
aktualisiert: 10. Oktober 2023 07:04
Quelle: ZüriToday

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