Bistum Chur

«Doppelmoral und Heuchelei»: Priester verweigern ihre Unterschrift zum Verhaltenskodex

17.06.2022, 13:34 Uhr
· Online seit 29.04.2022, 14:12 Uhr
Spirituellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung soll im Bistum Chur ein verbindlicher Verhaltenskodex vorbeugen. Doch jetzt begehren über 40 Priester dagegen auf: Der neue Kodex verstosse gegen das Kirchengesetz. Denn die sexuelle Orientierung dürfte dadurch nicht mehr thematisiert werden in der Seelsorge – und ergo könnten Ehedokumente gar nicht ausgestellt werden.
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Das Echo war überaus positiv. Joseph Maria Bonnemain hat mit der Präsentation eines neuen Verhaltenskodex zum Thema Machtmissbrauch weit über sein Bistum Chur hinaus für Aufsehen gesorgt. Zusammen mit allen sieben bistümlichen Landeskirchen der Kantone Graubünden, Zürich, Schwyz, Uri, Nid-, Obwalden und Glarus hat Bischof Bonnemain an der Medienorientierung vom 5. April öffentlichkeitswirksam den «Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht - Prävention von spirituellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung» unterzeichnet. Ein solch verpflichtendes Instrument für geistliche und weltliche Seelsorgerinnen und Seelsorger gibt es in keinem anderen Schweizer Bistum. Es dürfte in der katholischen Kirche gar international ziemlich einzigartig sein.

Bischof hätte «niemals unterzeichnen» dürfen

Doch jetzt führt eine bislang nicht bekannte Lesart des Verhaltenskodex zu öffentlichem Widerstand. Die 43 Geistlichen des Churer Priesterkreises, mit dem weitere rund 80 sympathisierende Priester verbunden sind, verweigern dem Churer Bischof die verlangte Unterschrift für das Präventionsinstrument. Mit einer CH Media vorliegenden Erklärung werden nun Unterschriften gegen den neuen Kodex gesammelt. Zwar teilt der als konservativ geltende Priesterkreis die Ansicht, dass der Prävention von Übergriffen eine hohe Bedeutung zukommt. Und er ist mit 95 Prozent der Inhalte des Kodex einverstanden, da er diese als Ausdruck des gesunden Menschenverstands und des Anstands versteht. Aber:

In der Erklärung, die am Freitag veröffentlicht wird, macht der Churer Priesterkreis deutlich, dass der Diözesanbischof das Dokument «niemals unterzeichnen» hätte dürfen, da es die Verkündigung von Teilen der Glaubenslehre einschränke und damit gegen das katholische Kirchenrecht verstosse. Der Bischof sei vom Priesterkreis schon im Vorfeld der Unterzeichnung auf dieses Problem hingewiesen worden.

Der neue Verhaltenskodex ist für alle angestellten geistlichen und weltlichen Mitarbeitenden im Bistum verbindlich. Heisst: Das 32-seitige Dokument muss von allen unterschrieben werden, es wird danach in den Personaldossiers abgelegt. Sanktionen sind im Kodex zwar nicht vorgesehen. Aber falsches Verhalten werde sicher Konsequenzen haben, wie Joseph Maria Bonnemain Anfang April ausführte.

Heikle Punkte betreffen die kirchliche Sexualmoral

Konkret geht es den Kritikern des Churer Priesterkreises insbesondere um Aspekte zur Lehre der katholischen Beziehungs- und Sexualmoral, um den Umgang mit Sexualität. Unter anderem in diesen Punkten sehen sie Probleme:

  • Homosexualität: Im Kodex heisst es: «Ich verzichte auf pauschal negative Bewertungen von angeblich unbiblischem Verhalten aufgrund der sexuellen Orientierung.» Gemäss dem auf der Bibel basierenden Katechismus seien «homosexuelle Handlungen in sich nicht in Ordnung» und «in keinem Fall zu billigen». Diese kirchliche Lehre könne man ergo nicht mehr verkünden. Innerkirchlich würde dies auch zu einer Doppelmoral führen, da eigene Mitarbeitende «in unsittlichen Beziehungen» nicht mehr zur Rede gestellt werden dürften.
  • Kirchliche Eheschliessung: «In Seelsorgegesprächen greife ich Themen rund um Sexualität nicht aktiv auf. In jedem Fall unterlasse ich offensives Ausfragen zum Intimleben und zum Beziehungsstatus.» Wer diesen Satz unterschreibe, dürfe kein Ehedokument mehr unterschreiben, so die Auslegung des Priesterkreises. Pfarrer oder deren Beauftragte müssten die zukünftigen Verheirateten fragen, ob sie einer Ehe als «sakramentale Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau» zustimmen. Sie müssen sich auf explizite Nachfrage zur Treue verpflichten, zur Ehe als lebenslänglichen Bund und zur Bereitschaft, Kinder zu zeugen. Auch der Beziehungsstatus müsse in Bezug auf frühere Ehen thematisiert werden. Konklusion: «Wer diese Fragen, welche auch das Sexualverhalten betreffen, nicht gemäss der kirchlichen Lehre beantwortet, kann nicht kirchlich heiraten.»
  • Sexuelle Orientierung: «Einem Outing zu sexueller Orientierung stehe ich unterstützend zur Seite.» Dies sei eine Zumutung für Priester, Diakone und kirchliche Mitarbeiter, die an der ganzen Lehre der Kirche festhalten. Denn dadurch würde deren Gewissen verletzt.

Das Zentralschweizer Fernsehen Tele 1 berichtete anfangs April über den neuen Verhaltenskodex:

Für den Churer Priesterkreis ist klar: Wer als kirchliche Mitarbeiterin oder Mitarbeiter an der «unverkürzten Lehre und Ordnung der Kirche» festhalten wolle, der werde mit dem Kodex in einen Gewissenskonflikt gestürzt. Und dieser Gewissenskonflikt «verunmöglicht es ihnen, ihrem Bischof zu gehorchen, denn sie würden damit der Kirche und ihrer Lehre untreu». Die Kodex-Kritiker schreiben im Fazit ihrer Erklärung gar:

Kritiker erwarten eine Korrektur des Kodex

Pfarrer Roland Graf, Sekretär des Churer Priesterkreises, stellt auf Nachfrage klar: «Am meisten stört uns, dass das Dokument arbeitsrechtlich relevant ist. Wenn ich etwas unterschreibe, muss ich Verantwortung tragen und dahinter stehen können. Und das ist eben nicht uneingeschränkt der Fall.» Unzufrieden sei man auch wegen des Umstands, dass der Kodex im Vorfeld nicht mit den Priestern im Bistum diskutiert worden sei. Auf wie viel Zuspruch die nun lancierte Unterschriftensammlung stossen wird, kann der Unteriberger Pfarrer Graf nicht sagen. Das Ziel ist indes klar: «Wir hoffen, dass der Verhaltenskodex überarbeitet wird und die strittigen Passagen korrigiert werden.» Erfolgt dies nicht, soll ein eigener Kodex zur Übergriffsprävention erarbeitet werden.

veröffentlicht: 29. April 2022 14:12
aktualisiert: 17. Juni 2022 13:34
Quelle: Luzerner Zeitung / Jérôme Martinu

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