Zentralschweiz

Wenn Prostituierte im Internet bewertet werden

Im Rotlicht-Forum

«Körper Top, Service Flop» – Wenn Frauen wie Restaurants bewertet werden

11.10.2020, 07:01 Uhr
· Online seit 10.10.2020, 18:59 Uhr
Bewertungsplattformen wie man sie für Produkte oder Ferien kennt, machen auch vor dem horizontalen Gewerbe nicht halt. Was heisst das für die Frauen aus der Branche, wenn ihre Körper und ihre Persönlichkeit öffentlich diskutiert werden? Ein Ausflug ins virtuelle Puff.
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User «pBitcher» ist unzufrieden. Der Service und das Preis-Leistungsverhältnis stimmen einfach nicht mehr. Seinen Unmut tut er im Internet kund, so wie Millionen andere Menschen. pBitcher bewertet aber keine Restaurants oder Läden, sondern Prostituierte.

Er ist damit nicht allein. Tausende Freier tauschen sich jeden Tag in verschiedenen Schweizer Foren über ihre Erfahrungen aus. Die Kategorie «Sex in der Zentralschweiz» umfasst  total über 5'000 Beiträge. Es geht um die eine Frage: Was kriege ich wo, für wie viel? Ich habe mich einen Tag lang durch die grössten Sexforen gelesen.

Meine Mitmenschen bezeichnen mich als aufgeschlossen und offen. Sexarbeit ist echte Arbeit, fand ich schon immer. Ich war in Amsterdam und Hamburg und kenne die Luzerner Etablissements als Ort, wo ich als Minderjähriger mit meinen Freunden auch dann noch ein Bier für 15 Franken bekam, als die Ü16-Party im «ABC» am Hallwilerweg schon vorbei war. Noch heute erwische ich mich beim Vorbeilaufen am Café Nizza dabei, wie ich einen Blick durch die Tür werfe, wann immer eine Prostituierte und ihr Kunde zusammen aufs Zimmer gehen. Meine Arbeitskollegen grinsen, als sie mir beim Recherchieren auf der Redaktion über die Schulter schauen. Mir vergeht das Grinsen schon nach kurzer Zeit.

«Finger weg von ungarischen Frauen!»

«Ich war zwei Mal bei der Susi. Sie sieht gut aus, hat kleine Brüste. Man sieht ihr an, dass sie Kinder hat», findet User «Mark06». Ein anderer User namens «Schmutzfink» bewertet das gleiche Lokal im Luzerner Hinterland. Weil nur «übergewichtige und unansehnliche Damen» auf ihn warten, kehrt er sofort um.

«Tendere», der bereits 460 Beiträge verfasst hat, scheint schlechte Erfahrungen mit Frauen aus Ungarn gemacht zu haben. «Finger weg von ungarischen Frauen!» schreibt er. «Fake Fotos, lügen einen am Telefon nur an, damit Mann hingeht. Danach die pure Verarschung.»

Sex ohne Kondom für den Preis von zwei Kinobesuchen

Nach einer Weile tauche ich in die Abgründe des Online-Milieus ab: Plattformen spezialisiert auf ungeschützten Sex, welche Frauen ihn anbieten und welche Frauen sich dazu überreden lassen.

Ein Luzerner User scheint etwas aufgebracht. Am Telefon habe er mit der Frau eine Stunde «AO», also Sex ohne Gummi, abgemacht. Vor Ort wollte sie aber nichts mehr davon wissen. Als sie ihm beim Blasen den «Präser» überstülpen will, wird es dem Freier zu viel. Er erinnert die Dame an ihre Abmachung und voilà: «schön brav» lässt sie sich vom Kunden «besamen». Trotz allem Entgegenkommen: Wiederholungsgefahr, die wichtigste Bewertungskategorie der Internet-Freier, gibt es keine. Der Versuch einer Frau aus dem Sexgewerbe ihre Gesundheit zu schützen: ein absolutes No-Go für den zahlenden Kunden. Wie die kalt gelieferte Pizza oder die Restaurantrechnung, auf die man 20 Minuten wartet.

In dieser Welt ist das verständlich. «Der Kunde ist König» lautet die Devise, auch wenn es um Gesundheit und Menschenwürde geht. Ein anderer Nutzer, der beim Besuch 50 Franken Aufschlag für «AO» bezahlen soll, macht auf der Stelle kehrt und geht wieder nach Hause. «Ich verhandle nicht mit dem Preis, denn darunter leidet der Service der Damen. Dann kann ich das Geld auch einfach aus dem Fenster werfen.» Sein Kumpan «S-Spender» pflichtet ihm bei. «Wer zahlt, bestimmt! War schon immer so und ist auch richtig so.» Er wisse, dass dies «unter Eierdruck» manchmal schwierig sei, erklärt er ausführlich.

Und wenn der Druck gross genug ist, dann müssen halt auch manchmal Schutzbefohlene hinhalten. «Peugi76» schreibt über Maria*, in der Luzerner AO-Szene «bekannt wie ein bunter Hund»: «Sie ist nicht ganz auf der Höhe würde ich sagen, eventuell geistig leicht zurückgeblieben aber sehr nett.» Immerhin erhält Maria noch 50 Franken Trinkgeld von Peugi76.

Ein anderer User berichtet vom Strassenstrich am Luzerner Kreuzstutz. Mehrere von denen habe er schon probiert. «Ein dickes blondes Mädchen, sieht irgendwie nach Down-Syndrom aus. Die bläst wie der Teufel.» 60 Franken lässt der Mann für ungeschützten Oralverkehr liegen, so viel wie für zwei Kinotickets mit Snacks und Getränken.

Welche Art von Freier wäre ich?

Ich nahm mir beim Schreiben dieses Artikels fest vor, meine Moralkeule im Kofferraum zu lassen. Und so bleiben für mich beim Durchlesen der Berichte vor allem Fragen. Was sind das für Männer, die Menschen wie Lieferpizza bewerten? Und was würde ich selber tun?

Viele der User scheinen für ihre Berichte durch die halbe Schweiz zu touren, besuchen Frauen in Emmenbrücke und im Emmental. Einige schreiben, sie seien beruflich unterwegs. Ich überlege mir, ob sich meine Arbeitskollegen oder Chefs hinter Peugi76, Tendere oder pBitcher befinden könnten. Und welche Art von Freier wäre ich selbst? Würde ich mich für meine Besuche schämen oder auch im Internet ganze Reiseberichte verfassen? Was bleibt, sind keine Antworten, sondern Fremdscham für meine Mit-Männer. Beim Lesen bleibt das Gefühl hängen, dass viele die Puff-Berichte dazu nutzen, auf die Frauen herunterzuschauen, die sie für 30 Minuten oder eine Stunde Sex bezahlen und um Distanz von den eigenen Handlungen zu schaffen.

«Hier werden keine Tassen Kaffee bewertet»

Was lösen solche Kommentare bei den betroffenen Frauen aus? Meine Kontaktversuche bleiben allesamt unbeantwortet. Ich sprach mit Birgitte Snefstrup vom Luzerner Verein für die Interessen der Sexarbeitenden LISA. «Dass Kunden im Internet über ihre Erfahrungen berichten, macht auch vor dem Sexgewerbe nicht halt. Wichtig ist, dass der nötige Respekt erhalten bleibt.» Dass dies nicht immer gegeben ist, zeigt unsere Recherche. Wenn aus anonymen Bewertungen Cybermobbing wird, könne dies auf die Psyche der Frauen schlagen. Birgitte Snefstrup sind solche Fälle aus anderen Kantonen bekannt.

Viele Sexarbeiterinnen seien fremdsprachig und lesen die Kommentare selten. «Viele schützen sich damit auch gewissermassen selbst», so die LISA-Geschäftsführerin. Es sei aber auch im Interesse der Frauen, wenn sexuelle Dienstleistungen transparent und ehrlich bewertet werden. «Positive Feedbacks wirken sich positiv aufs Geschäft aus.»

Auch die Sexarbeiterinnen tauschen sich untereinander aus, zum Beispiel über schwarze Schafe in der Branche. Wenn eine Frau beispielsweise nur fünf Minuten Sex anbietet, statt wie abgemacht 15 Minuten, dann leidet der Umsatz aller Frauen. «Die Freier denken dann schnell, ‹am Ibach kriegst du eh keinen guten Sex›», so Snefstrup.

Wichtig sei aber das Bewusstsein, dass es sich hier um Menschen handelt, die ihren Körper und ihre Intimität anbieten. «Den Freiern muss bewusst sein, dass sie nicht die Tasse Kaffee im Restaurant bewerten», erklärt die LISA-Chefin. Wer immer nur möglichst viel für möglichst wenig fordert, schade sich selbst. «Wenn die Frauen vor Geschlechtskrankheiten oder aktuell dem Coronavirus immer schlechter geschützt sind, dann gehen auch die Kunden ein grösseres Risiko ein», so Birgitte Snefstrup. Doch auch der finanzielle Druck auf die Sexarbeiterinnen, der wegen der Coronakrise ohnehin weiter gestiegen sei, dürfte weiter ansteigen.

Intimität auf einer Skala von 1 bis 10

Einigen Freiern, die sich auf der Plattform finden, scheint dies bewusst zu sein. In den Foren tummeln sich durchaus auch Männer, welche die Sexarbeiterinnen vor Bashing verteidigen und ihre Kollegen ermahnen, dass sie mit mehr Charme auch bessere Erfahrungen machen. Doch auch bei deren Berichten hat man das Gefühl, sich auf Digitec oder Booking.com zu befinden. Es geht um Aussehen, Preis, Service und Dauer – Intimität auf einer Skala von 1 bis 10.

«Dann kommen die Mädels pleite und untervögelt wieder zu uns»

Dass auch die Coronakrise im Rotlicht ihre Spuren hinterlassen hat, wissen die Online-Freier ebenfalls. Der User «Hupentester» freute sich bereits im Mai auf den Spätsommer, wie er damals geschrieben hatte. «Dann kommen die Mädels aus Rumänien pleite und untervögelt wieder zu uns.»

Ich bin nach meinem Ausflug ins virtuelle Puff froh, dass ich mein Notebook wieder zuklappen kann. Zu Hause angekommen, brauche ich erstmal einen Drink.

*Alle Namen von der Redaktion geändert.

veröffentlicht: 10. Oktober 2020 18:59
aktualisiert: 11. Oktober 2020 07:01
Quelle: PilatusToday

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