Familie aus Israel

Luzerner erzählt: «Sie haben jeden ‹runtergeschossen›, der da war»

· Online seit 21.10.2023, 13:04 Uhr
Kays Familie väterlicherseits stammt aus Israel. Er selbst ist in der Schweiz aufgewachsen und wohnt in Luzern. Trotzdem bestimmt der Krieg aktuell seinen Alltag: Seine Verwandtschaft ist unter Druck und setzt ihre gesamte Energie und Zeit gegen den Krieg ein.
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Kay, kannst du den Moment erläutern, als du vom Angriff der Hamas erfahren hast?

Ich war mit meiner Familie am Nachtessen. Mein Vater, der aus Israel stammt, fragte, ob wir gehört hätten, was passiert sei. Als er es uns erzählte, war ich bestürzt. Ich bin es immer noch. Ich sorge mich um meine Verwandten dort und wusste im ersten Moment nicht, wie es ihnen geht. Angriffe von der Hamas sind zur Gewohnheit geworden. Aber so etwas Schreckliches ist seit 50 Jahren nicht passiert.

Ist deine Familie in den Krieg involviert?

Zwei Cousinen und ein Cousin von mir sind permanent in der Militärbasis. Sie müssen viel Verantwortung tragen und zum Teil schwierige Entscheidungen treffen oder Befehle ausführen. Das Schwierigste an ihrem Job ist die mentale Belastung.

Alle versuchen mitzuhelfen. Mein Onkel ist schon lange nicht mehr im Militärdienst, aber leistet jetzt Freiwilligendienst. Er ist in einer Gruppe, die auf die Rettung von Menschen im Kriegsgebiet spezialisiert ist. Seit dem Kriegsfall arbeitet er wieder dort und schiebt täglich Zwölf-Stunden-Schichten neben seinem herkömmlichen Beruf.

Meine Tante hilft als Seelsorgerin mit. Sie ging zu den Kibbuz – den Dörfern – und half den Menschen zu entkommen. Sie brauchen Kleider und Essen. Meine kleinen Cousins backen und verteilen Brot und Guetzli.

Wie geht es deiner Familie?

Nervosität und Dauerstress bestimmen momentan den Alltag. Aber weil sich das israelische Volk seit mehreren Jahrzehnten an die Konfliktsituation gewöhnen musste, wissen sie, dass sie zusammen stark sind. Sie halten zusammen. Viele ihrer Freunde oder Freundesfreunde sind verletzt, gestorben oder gar entführt worden. Drei Beerdigungen an zwei Tagen nimmt eine Person schon mit.

Ich kann mir das nicht vorstellen. Die ganze Zeit heulen Sirenen. In den Nachrichten wird laufend gemeldet, wo sich der nächste Bunker befindet. Einem guten Freund meiner Familie stecken vier Kugeln im Bein. Er wohnte bloss 200 Meter vom Gazastreifen entfernt. Sein Sohn wurde ermordet und seine Frau mitgenommen.

Es ist nicht menschlich, was passiert. Dann gibt es noch den Druck der sozialen Medien. Nachrichten, die zu schnellen Schlagzeilen führen, bestimmen auch in der Schweiz die öffentliche Meinung.

Was sind deine Gedanken bezüglich der radikal-islamischen Hamas?

Ich habe vergangene Woche die Übersetzung der 35-jährigen Charta der Hamas gelesen. Sie sind öffentlich antisemitisch. In Artikel sieben steht, dass sie alle Juden vernichten möchten. Das Ziel der Hamas ist, diese Menschen umzubringen. Einen Friedensprozess zu finden sei eine sinnlose, törichte Zeitverschwendung. Im Namen Allahs zu sterben, um Palästina zu retten, ist ihre höchste Tugend. Das kann man doch so nicht in eine Verfassung schreiben!

22 Kibbuz, israelische Dörfer, sind jetzt leer geräumt. Sie haben jeden ‹runtergeschossen›, der da war. Sie haben Kinder, Frauen und Grosseltern als Geiseln mitgenommen.

Ich versuche mit einem kühlen Kopf an die Sache zu gehen. Man muss auch verstehen: Der Gazastreifen, die unterdrückten Palästinenser sind in dringlichster Not und haben nur noch so wenig Hoffnung! Aber der Hamas ist eine Terror-Organisation mit dem Ziel, Israel von der Landkarte zu streichen und Jüdinnen und Juden zu töten.

Ich verstehe nicht, wie man Gewalt mit Gewalt entgegenwirken will und dabei eine Lösung finden möchte, die menschlich ist. Ich hoffe sehr, dass der Funke eines antisemitischen Aufstandes, der der Hamas zünden möchte, nicht reicht und mehr Leid anrichtet.

Was denkst du über die Medienberichte der Angriffe?

Terror funktioniert nicht nur durch unmenschliche Taten wie diejenigen vom 7. Oktober, sondern auch durch Gehirnwäsche, durch Medienmanipulation, durch Verschweigen von Fakten. Was momentan passiert, sieht man nicht alles im Fernsehen.

Meine Familie erzählt mir fortlaufend, wie gewisse Schlagzeilen ein oder zwei Tage später durch neue Schlagzeilen korrigiert werden. Es ist schwierig, so Wahrheit von zuvor für wahr Gehaltenes zu unterscheiden. Und auch das Ausmass des Leides wird nicht mal in den schlimmsten Filmen gezeigt. Das kann man sich nicht vorstellen. So viel Leid.

Zur Parteiergreifung der einen oder anderen Seite kann ich nur sagen: Man kann einen Mord nicht rechtfertigen. Wenn man das denkt, wurde man Opfer von Propaganda. Ein Menschenleben, das ausgelöscht wird, ist schlimm.

Als Schweizer haben wir vielleicht keinen Einfluss darauf, was im Nahen Osten passiert. Aber wir können Aufmerksamkeit auf die Missstände richten, Empathie und Mitgefühl mit den Opfern teilen und dafür sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, indem wir unsere eigenen Gedanken selbst hinterfragen und kritisch denken.

Wie gehst du mit der Situation um?

Mich belastet und verängstigt die Situation extrem. Meine Freunde und Verwandte sind dort und stehen andauernd unter immensem Druck. Für sie ist das normal. Ich telefoniere viel mit ihnen. Jeden Tag besorgt mich die Situation und ich fürchte, was noch kommen könnte. Von beiden Seiten. Ich erhalte von vielen Freunden Nachrichten – digitale Umarmungen.

Es ist schön, dass die Leute ihre Anteilnahme zeigen. Meine Familie versucht seit der innenpolitischen Krise, die im März begann, den österreichischen Pass zu erhalten. Unsere Urgrossmutter war Österreicherin. Ich hoffe, dass sie bald von der Situation fliehen können.

Währenddessen tausche ich mich mit Freunden aller grossen Weltreligionen aus und auch mit Freunden, die aus dem Krisengebiet kommen. Wir sprechen über den Konflikt und unterstützen uns gegenseitig in dieser schwierigen, ungewissen Zeit mit Liebe und Mitgefühl.

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veröffentlicht: 21. Oktober 2023 13:04
aktualisiert: 21. Oktober 2023 13:04
Quelle: PilatusToday

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redaktion@pilatustoday.ch