Die Frauen hinken den Männern vielerorts hinterher. Etwa verdienen sie weniger, sitzen seltener in Führungspositionen und erhalten tiefere Renten. Um für Gleichstellung zu kämpfen, gehen am 14. Juni wieder tausende Frauen auf die Strasse. In einer Sache sind die Frauen den Männern jedoch einen Schritt voraus.
In schriftlichen Anreden und Begrüssungen gilt Ladies First. Es ziemt sich, in der Anrede die Frauen den Männern voranzustellen. So begrüssen höfliche Rednerinnen und Redner das Publikum mit «Sehr verehrte Damen und Herren» und schreiben in Anreden von E-Mails und Briefen «Sehr geehrte Frau X, sehr geehrter Herr Y».
Selbstverständlich ist auch, zuerst der Frau und erst danach dem Mann die Hand zu schütteln oder drei Küsschen zu verteilen. Ist keine fixe Reihenfolge vorgesehen, gilt selbstverständlich «Ladies first». Und haben Frauen es mit ausgewählt höflichen Männern zu tun, spazieren sie durch eine Tür, die ihnen die Männer aufhalten. Im Kampf um die Gleichstellung der beiden Geschlechter gerät die «LadiesFirst»-Tradition aber unter Druck.
«Hochgradig diskriminierend»
Es komme darauf an, wen man frage, sagt die Kolumnistin Tamara Wernli, die sich auf ihrem Youtube-Kanal «Tamara – Gesellschaft, Leben & eine Prise Ironie» unter anderem mit der Psychologie im Geschlechterverhalten beschäftigt. «Für eine 3. Welle-Feministin wäre schon alleine die Aussage ‹Sehr geehrte Damen und Herren› hochgradig diskriminierend, darum sagt man ja jetzt «dear people›», sagt sie mit einem Augenzwinkern. Die Diskussion, wer vorangestellt werde, erübrige sich somit.
Den Begriff «Ladies First» halte sie ohnehin für komplett unzeitgemäss, so Wernli. «Denn: Wer ist die Frau? Was ist eine Frau? Wenn schon, denn schon, müsste es heissen ‹Menschen mit Gebärmutter und Kinder first›.» Die ganze Debatte um Ladys First nehme sie demnach nicht ganz so ernst.
«Zeichen überholter Männlichkeitsvorstellungen»
Veränderungspotenzial sieht die männliche Seite. In der Vergangenheit seien Frauen bei der Anrede vorangestellt worden, um strukturellen Sexismus zu kaschieren und zu kompensieren, sagt Markus Theunert, Gesamtleiter des Dachverbands der Schweizer Männer- und Väterorganisationen Männer.ch. Deshalb sollte dies weiter entwickelt werden. «Aber eben nicht, weil die Gleichstellung schon so weit vorangeschritten wäre, sondern weil es einfach eine billige ‹Entschädigung› für handfeste Benachteiligungen darstellt.»
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Höfliche Gesten seien grundsätzlich ein Ausdruck von Wertschätzung und Respekt, sagt Theunert. Davon dürfe es im Alltag ruhig mehr geben – unabhängig des Geschlechts. «Schräg wird es, wenn Männer mit einer ‹Ladies first›-Geste eigentlich ihre Überlegenheit demonstrieren.» Vermeintlich «grosszügige» Ritterlichkeit sei doch eher Zeichen überholter Männlichkeitsvorstellungen und nicht Ausdruck eines egalitären Geschlechterverständnisses.
Theunert schlägt vor: «Wie wäre es stattdessen mit einem geschlechtsneutralen ‹Nach Ihnen›. Oder einer Geste und einem Lächeln statt dem platten ‹Ladies first›?» Auch sollte man sich fragen, ob Anredeformen noch zeitgemäss seien, die all jene übersähen, die sich nicht als Mann oder Frau fühlten. «Wünschbar wären mehr Flexibilität und Kreativität, beispielsweise mit der Anrede: ‹geschätzte Anwesende›.»
Männer-Vortritt sei auch okay
Wagt jemand, den Männern den Vortritt zu lassen, indem ein E-Mail beispielsweise mit «Sehr geehrte Herren und Damen» startet, droht die Person, sich rüpelhaft oder frauenverachtend zu verhalten. Geht es nach einigen Politikerinnen und Politikern, ist es Zeit für einen Wandel.
Die Gleichstellung der Frauen dürfe nicht zu einer umgekehrten Diskriminierung führen, was beispielsweise bei staatlichen Frauenquoten der Fall wäre, fordert SVP-Nationalrat Benjamin Fischer. «Wenn eine Frau oder ein Mann schriftlich oder in einer Situation einem Mann den Vortritt geben will, dann soll sie oder er das tun», sagt er. Dabei müssten sie sich aber auch mit verwunderten und kritischen Reaktionen abfinden können. «Obwohl die Diskriminierung eines Geschlechts nicht von der Anredeformel eines Geschlechts abhängt.» Diese Anrede sei lediglich historisch bedingt.
«Es braucht mehr Gelassenheit»
Fischers Erfahrungen nach schätzten es die Frauen immer noch sehr, wenn ihnen die Männer die Tür aufhielten. «Das Infragestellen des weiblichen Vortritts halte ich daher eher für eine aufgeblasene intellektuelle Diskussion.»
«Es braucht mehr Gelassenheit», fordert GLP-Nationalrätin Corina Gredig. «Statt auf Grabenkämpfe auf Nebenschauplätzen sollten wir uns lieber auf echte Probleme konzentrieren.» Tragisch sei, wenn diese Diskussionen rund um den richtigen Sprachgebrauch in der Kommunikation Barrieren schaffe. «Es darf nicht so weit kommen, dass man aus Angst, etwas Falsches zu sagen, überhaupt nichts mehr sagt.»
Frauen seien als Türöffnerinnen Weltspitze
Einige Stimmen sind der Ansicht, dass die «Ladies first»-Tradition bestehen bleiben soll. Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller findet: Bezüglich Gleichstellung gebe es noch genügend zu tun. Deshalb könne die Gesellschaft beruhigt an der gewohnten Anredeformel festhalten. Auch am Aufhalten der Tür will sie nicht rütteln. «Grundsätzlich ist ‹Ladies first› beim Eintreten in einen Raum eine kleine Gegenleistung dafür, dass wir als Türöffnerinnen für männliche Karrieren seit Jahrhunderten Weltspitze sind.» Was aber unterdessen nicht heisse, dass die Frauen wie bestellt und nicht abgeholt heute noch vor Türen stünden und warteten, bis ein Mann sie öffne. «Im eigentlichen und im übertragenen Sinne.»
Auch die bekannte Feministin und SP-Nationalrätin Tamara Funiciello sieht beim weiblichen Vortritt noch keinen Anpassungsbedarf. Wie aus der Pistole geschossen sagt sie: «Wenn wir keine Gewalt an Frauen mehr haben, wenn wir gleiche Löhne und Renten haben und alle Menschen in Freiheit und selbstbestimmt leben können – dann können wir darüber diskutieren.»