Polit-Serie

«Die Grünen müssen aufpassen, es nicht zu übertreiben»

15.11.2022, 15:49 Uhr
· Online seit 15.11.2022, 05:47 Uhr
Im zweiten Teil des Interviews mit Politik-Experte Hanspeter Trütsch beurteilt er die Arbeit der Politik anhand von konkreten Situationen. Ausserdem schätzt er die vergangene sowie aktuelle Leistung und die künftigen Wahlchancen der Parteien ein.
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Bitte beurteilen Sie nachfolgende Situationen:

Die Corona-Kommunikation rund um den Impfstoff und die gesundheitlichen Aspekte war nicht immer überzeugend und teilweise widersprüchlich. Was löst das bei der Bevölkerung aus?

Hanspeter Trütsch: Das verunsichert zusätzlich, kommunikativ war das alles andere als gut. Trotzdem finde ich, bei aller Kritik muss man das Gesamte sehen. Wir sind relativ gut durch die Corona-Pandemie gekommen. Trotzdem sind Fehler passiert, die Schweiz hat zu spät realisiert, was abgeht. Es gab Frühwarnsysteme, die man zu spät zur Kenntnis genommen hat. Seit dem 25. Dezember 2019 wusste man, dass in China etwas passiert. Die Schweiz hat zwei Monate gebraucht, um zu reagieren. Da waren wir sehr schlecht. Wir hatten einen Pandemieplan, der auf 128 Seiten auflistet, wer wofür zuständig ist. Wir haben keinen dieser Krisenstäbe so eingesetzt, wie es vorgesehen war. Das ist eine Folge unseres bereits erwähnten schwerfälligen politischen Systems.

2001 hat das Schweizer Stimmvolk einen Beitritt in die EU abgelehnt. Trotzdem will die SP einen Beitritt forcieren.

Das ist jetzt einfach die Rolle der SP. Die jetzige Parteileitung bringt sie dazu, sich als Europa-Befürworterin zu positionieren. «Die jungen Wilden» würde ich sagen. Die Realos in der SP merken, dass ein EU-Beitritt im Moment kein Thema ist. Wenn sie damit antreten, verlieren sie die Wahlen. Die SP muss sich für soziale Anliegen und gegen Ungerechtigkeiten einsetzen. Corona hat genau diese Ungerechtigkeiten verschlimmert. Es braucht mehr Solidarität in diesem Land. Das wäre eigentlich ein Wahlkampfthema für die SP.

Die SP macht sich mit ihren EU-Plänen unsympathisch und die Grünen werden unter anderem wegen den Klebe-Aktionen immer unbeliebter. Gibt es in der Bevölkerung jetzt einen Rechts-Rutsch?

Wenn man den jüngsten Umfragen glauben darf, und da bin ich immer sehr skeptisch, werden die Grünen etwas verlieren. Aber da möchte ich eigentlich nicht zu viel voraussagen. Natürlich hängt der Ausgang der Wahlen auch mit der Entwicklung der wirtschaftlichen Lage zusammen. Eine allfällige Rezession, steigende Arbeitslosenzahlen und zunehmende Spannungen bei den Krankenkassenprämien sind Dinge, die die Leute beschäftigen. Wenn eine Partei damit antritt, kann sie punkten. Die SVP als Ganzes wird als stärkste Partei aus den Wahlen 2023 hervorgehen. Einfach weil sie ihren Teil mit Freiheit und Unabhängigkeit abdecken und eine starke Stimme für KMUs sind.

Die Sanktionen gegen Russland hat der Bundesrat im Alleingang, ohne das Parlament zu fragen, von der EU übernommen. Die Bevölkerung muss jetzt mit den Konsequenzen leben. Wie beurteilen Sie das?

Der Bundesrat kann nicht bei jeder Entscheidung das Parlament fragen. Jetzt aktuell: Soll die Schweiz über Deutschland Munition in die Ukraine exportieren? Gewisse Rechtsgelehrte sagen, das sei mit unserer Neutralitätspolitik durchaus kompatibel, andere hingegen nicht. Auch der Bundesrat steckt in einem ständigen Zielkonflikt und das spürt man auch. Aus Sicht der Russen sind wir nicht mehr neutral, aber aus unserer Sicht schon. Aber da gehen die Meinungen auseinander. Das Parlament wird die Diskussion rund um den Munitionsexport führen und allenfalls abstimmen. Ist jemand damit nicht einverstanden, gibt es bei 50'000 Unterschriften ein Referendum und schlussendlich kann das Volk darüber abstimmen.

Ist die Schweiz noch neutral?

Das ist Ansichtssache. Wir sind neutral, solange wir nicht eine kriegsführende Partei unterstützen. Die Schweiz verurteilt den Angriffskrieg der Russen und bezieht Position für die Ukraine. Ich persönlich bin der Meinung, die Schweiz ist noch neutral. Bundesrat Cassis darf doch nach Kiew zu Wolodymyr Selenskyj reisen und mit ihm über die Wiederaufbauhilfen sprechen. Wenn ein Staat einen anderen souveränen Staat angreift, soll die Schweiz sich auf die Seite des Angegriffenen stellen.

Seit 2014 gab es zwischen Russland und der Ukraine immer wieder Spannungen, eine Eskalation war absehbar. Finden Sie es richtig, dass Bundesrat Cassis in die Ukraine reist und nur mit Selenskyj spricht?

Im Sommer 2021 hat in Genf ein Gipfeltreffen mit Wladimir Putin und Joe Biden stattgefunden. Auch der russische Aussenminister Sergej Lavrov und der US-amerikanische Aussenminister Antony Blinken waren unter anderem dabei und auch Bundesrat Ignazio Cassis war anwesend. Man hat Russland also immer Gesprächsbereitschaft signalisiert. Die diplomatischen Beziehungen zu Russland sind nicht gekappt worden. Vielleicht hätte die Schweiz bereits 2014 bei der Annexion der Krim eine schärfere Politik fahren müssen. Das war ein kapitaler Fehler, den der Westen als Ganzes gemacht hat.

Zurück ins hier und jetzt: Können Sie sagen, welche Partei die Bevölkerung in letzter Zeit am besten abgeholt hat?

Das muss man themenspezifisch anschauen, ganz so einfach zu beurteilen ist das nicht. Bei den Wahlen 2019 hatten wir ganz klar einen grünen Rutsch. Damals konnten die Grünen bei ihren Themen mobilisieren, diese sind jetzt aber wieder etwas vorbei. Die Grünen müssen aufpassen mit ihrer überzeichneten Klimademonstration. Indem man sich auf die Autobahn klebt oder teure Gemälde versucht zu beschädigen, gewinnt man keinen Blumentopf. Die Grünen müssen aufpassen, es nicht zu übertreiben.

Beim Thema Krankenkassen haben bis heute alle Parteien versagt. Das ist ein Ärgernis und für sehr viele Familien ein Thema. Uns fehlt es an günstigem Wohnraum, auch da hat keine Partei brilliert. Die Linken haben es zwar versucht, aber richtig gelungen ist es ihnen nicht. Wir haben also Themen, die nicht gelöst sind und wo die Parteien machtlos sind. Mich erstaunt, dass die Migration im Moment nicht mehr beschäftigt. Aber das wird auf den Herbst 2023 kommen und von den entsprechenden Parteien aufgenommen.

Bei aller Kritik, was hat die Politik in den letzten Jahren gut gemacht?

Die Schweiz ist noch immer eine starke, wettbewerbsfähige Gesellschaft. Wir haben nach wie vor eine gute Bildungslandschaft, einen Wohlstand, der noch nie so gut war wie heute. Das sind günstige Rahmenbedingungen, für die die Politik die Voraussetzungen schaffen muss. Das ist positiv zu werten. Bei uns herrscht Chancengleichheit. Bei der Geschlechter- und der Lohngleichheit gibt es Nachholbedarf, aber insgesamt ist die Schweiz noch immer gut unterwegs. Was mir zu denken gibt, ist die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir etwas wohlstandsverwöhnt sind. Ob ich 50 oder 60 Prozent arbeite, ist mir egal, Hauptsache meine Work-Life-Balance stimmt. Die jüngere Generation müsste sich schon überlegen, wer künftig den Staat finanziert. Aber insgesamt finde ich, hatte die Schweiz in den letzten Jahren Glück und ist bis heute gut durch die Krise gekommen.

veröffentlicht: 15. November 2022 05:47
aktualisiert: 15. November 2022 15:49
Quelle: FM1Today

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