Prozess

Möglicher Lukaschenko-Scherge in St.Gallen freigesprochen

28.09.2023, 17:32 Uhr
· Online seit 28.09.2023, 16:11 Uhr
Das Kreisgericht Rorschach hat in St.Gallen ein angebliches Mitglied einer belarussischen Sondereinheit im Fall möglicher Gräueltaten freigesprochen. Dem Mann wurden Verschwindenlassen beziehungsweise Irreführung der Rechtspflege vorgeworfen. Die Richter sahen in den Aussagen Widersprüche.
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Gewisse Schilderungen seien schlicht absurd, begründete der vorsitzende Richter das am Donnerstagnachmittag mündlich verkündete Urteil. Der Sachverhalt sei nicht erwiesen. Der Beschuldigte habe sich sowohl im Asylverfahren als auch in der Befragung durch die Staatsanwaltschaft oder vor Gericht mehrfach in Widersprüche verstrickt.

Der 45-jährige Belarusse gab bei seinem Asylantrag 2019 an, im Auftrag des Regimes des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko an der Ermordung von drei oppositionellen Politikern beteiligt gewesen zu sein. Das brachte diesen Fall ins Rollen.

Die Aussagen des Beschuldigten über die Vorgänge seien mit Details angereichert worden, um sie glaubwürdiger erscheinen zu lassen, sagte der Richter. Den Fragen zur Organisation der Spezialeinheit und zu deren Eingliederung ins Innenministerium weiche er hingegen aus. «Er will bestens informiert sein, kann aber einfache Fragen nicht beantworten», sagte der Richter.

Im Zweifel gegen Schuldsprüche

Es sei möglich, so der Richter, dass der Beschuldigte mit den dramatischen Schilderungen seinen Asylentscheid positiv habe beeinflussen wollen. Doch auch dies sah das Gericht als nicht erwiesen an und sprach bezüglich Eventualanklage der Staatsanwaltschaft ebenfalls einen Freispruch aus. Diese hatte wegen Irreführung der Rechtspflege eine bedinge Freiheitsstrafe von neun Monaten verlangt.

Es sei möglich oder gar wahrscheinlich, dass der Mann in einer Sondereinheit in Belarus diente, begründete der Richter sein Urteil weiter. «Zweifelhaft bleibt aber, ob er wirklich an den geschilderten Taten beteiligt war.» Vielleicht habe der Beschuldigte davon lediglich aus Erzählungen oder den Medien erfahren. Der Mann tauge nicht als Kronzeuge gegen das Regime in Belarus.

Erwiesen sei hingegen, dass der Angeklagte in den 2000er-Jahren in Belarus zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen Bestechung verurteilt worden sei.

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Staatsanwaltschaft prüft Berufung

Mit dem angeblichen Mitglied eines belarussischen Spezialkommandos war erstmals in der Schweiz eine Person wegen Verschwindenlassens im Auftrag eines Staates angeklagt. Im Schweizer Strafgesetzbuch ist der betreffende Artikel seit 2017 verankert. Er gründet auf einem Uno-Übereinkommen.

Am Prozess vergangene Woche hatte die Staatsanwaltschaft einen Schuldspruch und eine Haftstrafe von drei Jahren gefordert, davon ein Jahr unbedingt.

Nach Bekanntwerden des Urteils erklärte ein Sprecher der St.Galler Staatsanwaltschaft, erst nach Vorliegen des schriftlich begründeten Urteils zu entscheiden, ob der Fall an die nächste Instanz weitergezogen werde.

«Gericht hat Dimension des Falls nicht erkannt»

Am Prozess beteiligten sich auch zwei Töchter von damals verschwundenen Oppositionspolitikern. Sie stellten einen Antrag auf eine Genugtuung von je 200'000 Franken. Diese Forderung verwies das Gericht auf den Zivilweg.

Der Anwalt der beiden Hinterbliebenen zeigte sich am Rande der Urteilsverkündung enttäuscht. Das Gericht habe die Dimension dieses Falles nicht erkannt. In St.Gallen kamen erstmals überhaupt mögliche Verbrechen im Auftrag des autoritären Regimes um Alexander Lukaschenko in Belarus an einem Gericht zur Sprache.

Den Prozess im Saal des Kantonsgerichts St.Gallen verfolgten zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter von Medien aus dem In- und Ausland sowie mehrerer Menschenrechtsorganisationen.

(sda/red.)

veröffentlicht: 28. September 2023 16:11
aktualisiert: 28. September 2023 17:32
Quelle: FM1Today

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