Einen Tag zuvor waren es noch 1419 bestätigte Tote gewesen. Die Such- und Rettungsarbeiten gingen am Dienstag weiter, nachdem der Tropensturm «Grace» in der Nacht über das betroffene Gebiet auf der südhaitianischen Halbinsel Tiburon hinweggefegt war und mancherorts Überschwemmungen verursacht hatte. Zehntausende Menschen, die im Beben ihr Zuhause verloren hatten, konnten sich mit Zelten und Planen nur notdürftig schützen.
Es gab allerdings auch Hoffnungsschimmer: Am Dienstagmorgen (Ortszeit), drei Tage nach dem Beben, wurden nach Angaben des Zivilschutzes in der Ortschaft Brefèt aus den Trümmern eines früheren UN-Gebäudes 16 Menschen lebend geborgen. Auch kam allmählich Hilfe in der Erdbebenregion an. Die US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) flog nach eigenen Angaben 52 Menschen zur medizinischen Behandlung aus. Die Krankenhäuser in der Gegend waren überlastet, schlecht ausgestattet, personell unterbesetzt und selbst beschädigt.
Das Beben der Stärke 7,2 hatte sich am Samstagmorgen (Ortszeit) nahe der Gemeinde Saint-Louis-du-Sud östlich von Les Cayes in einer Tiefe von rund zehn Kilometern ereignet. Gut 37 000 Häuser wurden laut Zivilschutzbehörde zerstört, fast 47 000 beschädigt. Nach Unicef-Angaben waren 1,2 Millionen Menschen betroffen. Die Not war gross in dem Gebiet, das fünf Jahre zuvor von Hurrikan «Matthew» verwüstet worden war. Es fehlte am Nötigsten. «Die humanitäre Lage ist sehr besorgniserregend», erklärte das Büro des Interims-Premierministers Ariel Henry.
Bei einem Erdbeben der Stärke 7,0 im Januar 2010 waren in Haiti, dem ärmsten Land Amerikas, mehr als 220 000 Menschen ums Leben gekommen und mehr als eine Million Menschen obdachlos geworden. Der Wiederaufbau litt stark unter Korruption und Verschwendung.
Haitis ohnehin schwer unterfinanziertes Gesundheitssystem ist durch die sich zuletzt verschlimmernde Pandemie überstrapaziert. Hinzu kommt eine tiefe politische Krise, die sich nach der Ermordung des Staatspräsidenten Jovenel Moïse durch eine Kommandotruppe in seiner Residenz in der Nacht zum 7. Juli noch verschärft hat. Kämpfe zwischen Banden um Territorium legen Teile der Hauptstadt Port-au-Prince immer wieder lahm und trieben allein im Juni nach UN-Zahlen rund 15 000 Menschen in die Flucht.
Banden kontrollieren auch die Hauptstrasse in den Süden des Landes und blockieren sie. Die Regierung und UN-Vertreter hätten ausgehandelt, dass zwei Hilfskonvois die Strasse befahren dürften, teilte die UN-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) mit.
Die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH kritisierte die Katastrophenhilfe der Regierung als «totales Chaos». «Sie sind völlig sich selbst überlassen», hiess es hinsichtlich der Erdbebenopfer. Im Sturm seien viele der wenigen Zelte und Planen gerissen, so dass sie «nun wirklich gar kein Dach über dem Kopf mehr haben», sagte Sibille Buehlmann von der Organisation Handicap International aus Port-au-Prince der Deutschen Presse-Agentur. Auch in den noch stehenden Häusern in der Erdbebenregion schlafe niemand mehr - weil sie instabil geworden sein könnten und wegen ständiger Nachbeben.