Justiz in der Zentralschweiz

«280 hängige Verfahren pro Vollzeitstelle» – aber nur wenige Fälle verjähren

26.07.2023, 08:02 Uhr
· Online seit 26.07.2023, 07:39 Uhr
Mit über 100'000 offenen Fällen schlägt sich die Schweizer Justiz zurzeit herum, Tendenz steigend. Strafprozesse nehmen stetig zu, der Aufwand ist teils enorm, gleichzeitig ist das Personal knapp. Wie sieht die Situation in der Zentralschweiz aus?
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Die Strafprozessfälle in den letzten zehn Jahren haben sich mehr als verdoppelt. Dies zeigen die Zahlen der erstinstanzlichen Gerichte des Kantons Luzern. «Der Aufwand solcher Verfahren ist teilweise enorm», so Barbara Koch, Generalsekretärin des Kantonsgerichts Luzern. Die Fälle seien im Vergleich zu früher umfangreicher geworden.

«Betrugsfälle zum Beispiel brauchen ewig.» An einen Fall könne sie sich gut erinnern. Ein deutscher Anleger, der über 400 Personen betrogen hat. «Dieses Dossier lag ein Jahr bei uns im Kantonsgericht. Den unglaublichen Aufwand betrieb jedoch die Staatsanwaltschaft im Vorhinein. Sie haben die ganzen Unterlagen aufgearbeitet.» Zur Aufarbeitung hätten sie unter anderem Beweise gesichert und Klägerinnen und Kläger befragt.

Gründe für den grossen Zeitaufwand seien neue Gesetze und Gesetzesbestimmungen oder auch neue Deliktfelder wie Cyberkriminalität. Ein Beispiel eines solchen Falls sind Hacker oder Cyberkriminelle, die Geld im Internet verdienen wollen und hierfür Leute betrügen. Zudem liessen viele Angeklagte ein Urteil nicht auf sich sitzen und reichen Beschwerde ein, was zu weiteren Verzögerungen führe.

«Eine belastende Situation» auch in weiteren Zentralschweizer Kantonen

Auch in der Staatsanwaltschaft des Kantons Zug sind die pendenten Fälle in diesem Jahr ausserordentlich hoch. «Der Durchschnitt an offenen Verfahren lag in den letzten zehn Jahren bei knapp 1800. Stand jetzt liegen der Staatsanwaltschaft rund 2300 Fälle vor», sagt Judith Aklin, Mediensprecherin der Zuger Strafverfolgungsbehörden.

Im Kanton Nidwalden habe die Jugendkriminalität in den letzten Jahren zwar abgenommen, dafür häufen sich auch hier die Cybercrime-Fälle. «Solche Fälle bringen uns oftmals an Grenzen, da sie verschlüsselt und nur schwer nachvollziehbar sind», so Alexandre Vonwil, stellvertretender Oberstaatsanwalt des Kantons Nidwalden. Nicht umsonst sei die Aufklärquote solcher Fälle schweizweit tief.

Alleine im letzten Jahr hätten die hängigen Fälle im Kanton Nidwalden um elf Prozent zugenommen. «Wir versuchen mehr Spezialisten in den zunehmenden Deliktfeldern auszubilden.» Dies sei aber gar nicht so einfach, wenn die personellen Ressourcen ohnehin schon knapp sind.

Während das Parlament in Bern also stetig neue Gesetzesartikel beschliesst, die mit mehr Aufwand verbunden sind, geht den Kantonen das Personal aus. Es fehlt an Polizistinnen, Staatsanwälten oder Gutachter, wie der Tages Anzeiger berichtete.

Ein weiteres Beispiel, der Kanton Uri. Stand heute seien bei der Staatsanwaltschaft 1400 Verfahren hängig. «Dies entspricht 280 hängigen Verfahren pro Vollzeitstelle», so Thomas Imholz, Urner Oberstaatsanwalt. Die Arbeitslast sei bereits in den Vorjahren hoch gewesen und nimmt stetig zu. «Uns sind die Hände gebunden. Wir können nicht mehr tun, als ständig auf die herrschende Tendenz hinzuweisen und mehr Personal zu fordern.»

Trotz Personalmangel werden in der Zentralschweiz nur wenige Verfahren verjähren

«Bisher ist es bei Gerichten infolge der Veränderungen nicht zu einem erheblichen Ressourcenausbau gekommen», so Koch. Bei den erstinstanzlichen Gerichten des Kantons Luzern seien jedoch einzelne zusätzliche Richter- und Gerichtsschreiberstellen geschaffen worden. «Zudem kommt es intern teilweise zu Verschiebungen in andere Deliktfelder.» So versuche man die Situation zumindest teilweise zu entlasten.

Auf Anfrage von Tele 1 und PilatusToday fällt auf, dass bei den erwähnten Kantonen trotz des Personalmangels gleichermassen wenige bis gar keine Verfahren verjähren würden. Es komme vor, dass Nebendelikte wie zum Beispiel Geschwindigkeitsübertretungen in grossen und umfangreichen Verfahren noch vor Anklageerhebungen verjähren. Dies hat zur Folge, dass Angeklagte geringere Strafen erhalten. Aufwendige und grosse Hauptdelikte würden prioritär behandelt.

veröffentlicht: 26. Juli 2023 07:39
aktualisiert: 26. Juli 2023 08:02
Quelle: PilatusToday

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