ADHS im Lager

«Bestrafungen, Tadel und Rüge können sie sich besser merken»

· Online seit 23.07.2023, 15:12 Uhr
Sommerzeit ist Lagerzeit. Tausende Kinder zelten oder übernachten im Ferienhaus – für die Leitpersonen eine grosse Verantwortung. Umso anspruchsvoller wird es, wenn ADHS-Kinder dabei sind. Ein Experte erklärt, worauf es zu achten gilt.
Anzeige

Ben und seine Freunde spielen im Wald, als sie auf eine grosse Felsformation treffen. «Wer schneller oben ist!», ruft Charlotte. Während Ben keine Zeit verliert und losklettert, bemerkt Charlotte plötzlich, dass die Kletter-Route nicht gerade ungefährlich ist. Aber Ben ist nicht mehr zu stoppen.

Ben hat ADHS. Situationen wie diese sind gerade im Lageralltag nicht selten. Während Charlotte die Gefahr erkennt, hat Ben als ADHS-Kind Mühe, das Risiko einzusehen und damit eine höhere Verletzungsneigung. Hier liege es an den Erwachsenen, aufzupassen, erklärt Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Luzerner Psychiatrie AG. Bei ADHS-Kindern umso mehr.

Klare Tagesstrukturen

Das Lagerleben kann gerade für ADHS-Kinder anspruchsvoll sein. Deswegen lohnt es sich, auf einige Dinge zu achten. «Alle Abläufe und Tagesstrukturen sollten klar durchschaubar sein. Routine hilft, damit sich das ADHS-Kind wie zu Hause fühlt. Um es kurzzufassen: guter Stundenplan – wenig Spontanität», erklärt Oliver Bilke-Hentsch. Dazu gehört auch, gut zu schlafen. Deswegen sei es wichtig, das Quatsch-Machen im Schlag oder Zelt möglichst rasch zu unterbinden, damit alle und vor allem die ADHS-Kinder genügend Schlaf bekommen.

Schweizweit sind zwischen drei und fünf Prozent der Kinder von ADHS betroffen. «Die Zahl ist sehr konstant. Was aber auffällt, ist, dass die gestörte Aufmerksamkeit bei Kindern zunimmt», so Oliver Bilke-Hentsch. Was nach einer kleinen Zahl klingt, bedeutet hochgerechnet aber immer noch, dass Tausende betroffen sind. Oder anders gesagt: circa jedes 20. Kind.

Mehr Lob für ADHS-Kinder

Eine Studie hat ergeben, dass sich ADHS-Kinder Lob schlecht merken können. «Bestrafungen, Tadel und Rüge können sie sich besser merken. Sie brauchen mehr Lob als Kinder ohne ADHS.» Es lohne sich also, ADHS-Kinder dafür zu loben, wenn es gut läuft. «Auch Pausen machen ist wichtig», rät Bilke-Hentsch. «Das geht oft vergessen, aber ADHS-Kinder reissen sich oft sehr zusammen, das ist anstrengend und kann dann auch dazu führen, dass sie an einem gewissen Punkt schnell wütend oder traurig werden.»

«Es ist keine Mode-Diagnose» – Juliana spricht über ihr ADS

Quelle: PilatusToday/Andreas Wolf

Auch das Leben in der Gruppe kann ADHS-Kinder vor Schwierigkeiten stellen. Während kleine Gruppen bis vier Personen und sehr grosse Gruppen kein Problem sind, sind Gruppen zwischen fünf und zehn Personen überfordernd. «Da verliert das ADHS-Kind die Übersicht», so der Chefarzt.

Wenn es in der Gruppe zu Streit kommt, ist es nicht ungewöhnlich, dass ein ADHS-Kind überreagiert. «In der Situation zu diskutieren und zu rügen bringt dann nichts.» Besser sei, das ADHS-Kind aus der Gruppe zu nehmen, bis es sich wieder beruhigt hat. «Aber dann auch mit der Gruppe besprechen, was schiefgelaufen ist.»

Sobald sich das ADHS-Kind beruhigt hat, kann man dann auch nochmals über die Regeln reden. Da bei ADHS eine Störung des Sozialverhaltens dazukommen kann, vergisst das ADHS-Kind Regeln oft schnell wieder. «Besser klappt es, wenn erklärt wird, warum es die Regeln eben braucht.»

Das Gespräch mit den Eltern suchen

Vor dem Lager lohnt es sich, das Gespräch mit den Eltern zu suchen, meint Bilke-Hentsch. Einerseits geht es dabei um die Medikation. ADHS wird oft mit Ritalin behandelt, aber nicht alle Kinder brauchen Ritalin in allen Lebenssituationen. «Hier sollte man die Eltern fragen, was der Sinn der Medikation ist. Wenn es darum geht, das Kind fit für die Schule zu machen, wird es die Medikamente im Lager nicht zwingend brauchen», erklärt er.

Ausserdem können bei ADHS weitere Probleme dazu kommen. Etwa 30 Prozent entwickeln eine Angststörung oder eine Depression.

Scan den QR-Code

Du willst keine News mehr verpassen? Hol dir die Today-App.

veröffentlicht: 23. Juli 2023 15:12
aktualisiert: 23. Juli 2023 15:12
Quelle: PilatusToday

Anzeige
Anzeige
redaktion@pilatustoday.ch