40 km vom See zum Berg

Erbarmungslos auf Wanderschaft – ein Erfahrungsbericht

12.07.2021, 09:12 Uhr
· Online seit 12.07.2021, 06:48 Uhr
Knapp 40 Kilometer sind es von Luzern bis aufs Stanserhorn. Das ist keine normale Wanderung mehr, sondern eine sportliche Challenge. Am Samstag sind 430 Menschen beim Event «Vom See zum Berg» an den Start gegangen. Unter ihnen: unsere Reporterin Caroline Dettling. Ein Bericht über eine Wanderung mit halbem Happy End.
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Meine Freundin Marion ist leicht masochistisch veranlagt. Sie macht gerne beim «StrongmanRun» mit, einem Lauf, bei dem man durch eiskaltes Wasser watet, im Schlamm unter einem Zaun durchrobbt, steile Hänge empor rennt. Sie sagte zu mir: «Lass uns beim Event ‘Vom See zum Berg’ mitmachen. Einer Wanderung, bei der man von der Stadt Luzern bis aufs Stanserhorn geht.» Knapp 40 Kilometer, 2'370 Meter hoch, 1'020 Meter hinunter, 13 Stunden wandern, und das auch noch in der Nacht. Ich fand die Idee verrückt. Aber was soll ich sagen, Marion kann sehr überzeugend sein.

Also stehe ich jetzt am Fusse des Stanserhorns und habe keinen Plan, wie ich es noch da hoch schaffen soll. Und ich meine das wirklich so, ich weiss nicht, wie. Es ist 16:30 Uhr. Die Night Session wurde wegen Gewitter-Prognosen abgesagt, also sind wir tagsüber unterwegs. Auch mit genug Schlaf ist es hart. Der Start war beim Inseli Luzern, wir liefen in Richtung Kastanienbaum, dann nach Horw. Eine friedliche Strecke. Mit schöner Sicht auf den See, die Berge und die Stadt. Und dann kam Hergiswil.

Erster Kampf

Nach einer kurzen Pause am Ufer in Hergiswil gehen wir den steilen Hang hoch. Der Sonne ausgesetzt wandern wir zum Ränggpass. Meine Gruppe, vier flott trainierte Frauen, hält das Tempo, das sie auf flachem Terrain bereits angeschlagen hat. Ich packe die Wanderstöcke, gehe deutlich langsamer und atme bereits sehr angestrengt. Beim ersten Anstieg und nach gerade mal 15 Kilometern! Wie zum Teufel soll ich das heute schaffen? Beim Abstieg vom Ränggpass relativiert sich diese Frage wieder. Abwärts kann ich entspannen. Fröhlich gehen wir durch den Wald in Richtung Alpnachstad, dort wartet die nächste Pause mit kleiner Musikeinlage.

Ein Freund sagte mir einst, um Blasen vorzubeugen, trage er jeweils Strümpfe unter den Socken. Er lief auf dem Jakobsweg von der Zentralschweiz bis nach Santiago de Compostela. Der Mann weiss, wovon er spricht. Sein Ratschlag hat sich bisher bewährt. Wir sind gut in der Hälfte und ich spüre noch keine Blasen. Zudem gibt es jetzt ein Fussbad. In Alpnachstad ist der See über das Ufer getreten. Es gibt keinen Weg am Wasser vorbei. Also gehen wir ohne Schuhe weiter. Das kühle Wasser, der Schlamm, es tut gut.

Das Rotzloch vor dem Berg

Die 430 Teilnehmenden verteilen sich gut auf der Strecke. Immer mal wieder trifft man andere Wanderer mit einer Startnummer am Rucksack. Wir gehen in Richtung Stansstad, aber nicht ganz bis zum Dorf, nein. Es folgt: das Rotzloch.

So hässlich wie der Name ist, geht es mir bei diesem Anstieg. Wieder ist es heftig heiss, wieder sind die Beine müde, wieder ist der Atem schwer. Und bald sehen wir das Stanserhorn in seiner vollen Pracht, von unten bis ganz oben. Der Gedanke, da hoch zu gehen, erschlägt mich. Aber wir nehmen es in Angriff, Schritt für Schritt. Und der nächste Schritt ist jetzt die Verpflegung in Stans. Dann schauen wir weiter.

Es gibt die Möglichkeit, mit der Bahn hochzufahren. Es wäre keine Schande. Immerhin bin ich schon über 30 Kilometer gewandert, ich habe gekämpft, geschwitzt, meine Hüftbeuger schmerzen. Aber die Option will nicht in meinen Kopf. Mein Ziel ist es, von Luzern bis auf den Gipfel dieses Berges zu gehen. Also versuche ich es. Auch wenn jetzt noch 1'300 (!) Höhenmeter vor mir liegen. Die Dimensionen sind mir zu dem Zeitpunkt nicht so ganz bewusst. Ich habe im Vorfeld schlecht recherchiert, vielleicht besser so.

Bergauf und sonst nichts

Langsam geht es vorwärts. Die Schnellen aus der Gruppe sind davongezogen. Marion, treu wie sie ist, geht mit mir. Die Strecke verläuft am wohl steilsten Weg, den es an diesem Berg gibt. Lediglich an einer Stelle geht es etwa 20 Meter leicht runter. Ansonsten gibt es nichts als Steigung. Das Gute daran: Wir gewinnen sehr schnell viele Höhenmeter. Das Schlechte: Erklärt sich von selbst.

«Caro, wir müssen das Tempo halten, damit wir es vor dem Gewitter nach oben schaffen.» Ich weiss das, ich sehe und höre das Gewitter, nein, die Gewitter. Eines wütet gerade in Luzern. Es sieht gigantisch aus. Wie ein grauer Vorhang zieht der Regen über die Landschaft. Wenn er sich über dem See bewegt, sieht man unten die Grenze, wo die Tropfen aufklatschen. Auch von Uri her kommt eine Wand. Auch hier: Wahnsinnig geile Sicht, aber auch ziemlich bedrohlich.

«Ich mache, was ich kann Marion, aber mehr geht nicht. Werde ich halt nass. Zieh weiter, du bist schneller.» Natürlich geht sie nicht. «Muss ich die Stöcke einpacken, wenn es blitzt?», frage ich naiv. Sie antwortet: «Ach was, nein, jeder Baum ist höher als wir. Und die Stöcke sind bestimmt aus Karbon.» Beruhigend.

Der graue Gipfel

Ich denke an die heftigsten Wanderungen, die ich bisher gemacht habe, um mich zu motivieren. Die hast du auch geschafft. Also schaffst du das hier auch. Schritt für Schritt. Weggefährten leiden ebenfalls, aber wir beissen durch. Bis wir die Bergstation sehen, von weitem. Bis wir den obersten Grat sehen. Bis wir nicht mehr viel sehen, weil die Wolken jetzt da sind und der Regen auf uns prasselt. Es wird kalt. Die Schuhe sind schlammig. Aber es geht weiter.

Und da in den grauen Wolken erscheint plötzlich das markante Gebäude: Die Bergstation. Es ist nicht zu fassen. Wir sind angekommen, um 20:54 Uhr. Ich weiss immer noch nicht, wie das klappen konnte, aber wir sind da. Das obligate Finisher-Bild, dann ab in die warmen Klamotten und zu den Älplermagronen, der letzten Mahlzeit.

Das wahre Ende

Das könnte jetzt der Schluss der Geschichte sein, aber es wäre nicht die ganze Wahrheit. Meine Gruppe musste sich schnell verabschieden, ihr letzter Zug fährt bald. Ich nehme mir Zeit, sitze alleine da mit meinem Teller Älplermagronen. Und ich kann nicht essen. Mir ist schlecht. Ich habe mich völlig verausgabt. Ich habe keine Energie, sollte etwas essen, aber mir ist schlecht. Das pinke Getränk mit vielen Vitaminangaben auf der Etikette geht runter. Aber die käsigen Älplermagronen, keine Chance. Nach fünf Minuten frage ich die netten Männer neben mir, ob sie noch Hunger hätten. Die zwei lachen freundlich. «Nein, wir hatten schon und gehen jetzt auf die Bahn.»

Ich bleibe noch kurz sitzen, aber dann gehe auch ich hoch und stelle mich in die Schlange bei der Bahn. Es regnet in Strömen draussen. Wieder treffe ich die zwei Männer und kriege mit, dass sie nach Luzern müssen. «Entschuldigung, werdet ihr unten gleich abgeholt und fährt ihr nach Luzern?» - «Ja, du kannst mitreiten, wenn du magst.» Euch schickt der Himmel!

Sorry wegen den Blumen

Mit null Sicht fahren wir runter. Ich steige aus der Bahn und jetzt ist mir so richtig schlecht. Es gibt kein Halten mehr. Ich muss mich übergeben, die Blumen an der Talstation müssen dran glauben. Zwei Mal. Später beichte ich meiner Mitfahrgelegenheit, dass ich eben ins Blumenbeet gereihert habe. «Nehmt ihr mich trotzdem noch mit?» Er lacht. «Klar doch, kein Thema!», sagt er und drückt mir einen Sack in die Hand.

Das war die härteste Wanderung, die ich je gemacht habe. Mein Kopf hat meinen Körper überlistet und so bin ich bis ganz nach oben gekommen. Aber es hat sich gerächt. Offensichtlich war die Strecke zu viel für mich. Es ist gut zu erfahren, was für Strapazen mein Körper aushalten kann. Klug ist es wohl nicht. Marion hat den Tag gut weggesteckt. Nicht sie ist die Masochistin, ich war es heute.

veröffentlicht: 12. Juli 2021 06:48
aktualisiert: 12. Juli 2021 09:12
Quelle: PilatusToday

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